Ta Minh Duc vor dem Sonnenblumenhaus. Die Ausschreitungen hat er als Kleinkind miterlebt.
DAS POGROM UND WIR
Sie haben vor 30 Jahren die rechtsextremen Angriffe von Rostock-Lichtenhagen miterlebt. Hier erzählen sie, was sie nicht vergessen können – und was aus ihnen wurde.
Fabian Hillebrand
Vanessa Vu
Es waren mehrere Hundert Rechtsextreme, die vom 22. bis zum 26. August 1992 Asylbewerbende und ehemalige vietnamesische Vertragsarbeitende in dem Rostocker Stadtteil Lichtenhagen attackierten. Zeitweise bis zu 3.000 Schaulustige applaudierten ihnen damals und blockierten die Zufahrt für Rettungskräfte. Zunächst richtete sich die Gewalt gegen eine Aufnahmestelle für Asylbewerbende – die nahm niemanden mehr auf, Roma-Familien harrten vor dem Gebäude aus. Später wurde das sogenannte Sonnenblumenhaus angegriffen, in dem viele Vietnamesinnen und Vietnamesen lebten. Auf dem Höhepunkt des Pogroms zog sich die Polizei zurück, das Haus ging in Flammen auf und die Bewohnerinnen und Bewohner waren sich selbst überlassen. Einige retteten sich über das Dach ins Nachbargebäude. Alle überlebten.
“Ich bin doch Deutscher”
Ich weiß noch, dass mich in diesem August 1992 immer mein Opa vom Kindergarten abholte. Auf dem Weg passierten wir oft eine Gruppe Demonstranten, die grölten: “Ausländer raus.” Ich fragte mich, warum – ich bin doch Deutscher. Mein Vater war überzeugt davon, dass die Polizei uns schützen würde. Als dann die Ausschreitungen begannen, wollte meine Familie zunächst nicht weggehen. Aber deutsche Freunde flehten uns an, dass wir zu ihnen kommen, in ihre Wohnung drei Blöcke weiter. Nach langem Zögern taten wir es dann auch. Als das Sonnenblumenhaus auf dem Höhepunkt der Krawallnächte brannte, also unser Haus, waren wir zum Glück nicht drin.
Später hatte ich Albträume, aus denen ich aufwachte und auf Vietnamesisch rief: Die Glatzköpfe kommen! Immer wenn ich krank war, kamen die Albträume zurück. Als Schüler machte ich ein Auslandsjahr in den USA, selbst einigen Leuten dort sagte Rostock-Lichtenhagen etwas. Ich begann, mich mit dem Thema wieder zu beschäftigen und zu verstehen, wie heftig das gewesen war. In der vietnamesischen Community wurde allerdings nicht viel darüber gesprochen. Wenn ich als Jugendlicher ausging, sagte mein Vater mir oft: Seid vorsichtig, wir sind Ausländer in Ostdeutschland. Die großen Volksfeste in Rostock habe ich als Teenager gemieden. Meinen Freunden sagte ich: Kommt doch danach einfach zu mir!
Meine Studienzeit in San Francisco habe ich genossen. Denn in den USA kann und darf jeder Amerikaner sein. In Deutschland werde ich mich immer als Ausländer fühlen. Ich kehrte zurück, um meinem Vater bei einem Bauprojekt zu helfen. Als er starb, entdeckte ich einen Umzugskarton voll mit Artikeln über Rostock-Lichtenhagen.
Ich habe nun selber Kinder und frage mich oft: Was will ich ihnen mitgeben? Sie sollen nicht mit Angst durch die Straßen gehen. Aber auch darauf vorbereitet sein, dass es immer noch Rassismus gibt, dass man das, glaube ich, nie ganz aus den Menschen herausbekommen wird. Doch sie sollen auch wissen: Wir sind Teil dieser Gesellschaft, Deutschland ist unser Zuhause.
Ta Minh Duc, 33, arbeitet im Restaurant Asia-Palast in Warnemünde
“Ich rief die Feuerwehr. Keiner kam”
Aber fangen wir vorne an: In der DDR lebten wir jahrelang mit Vietnamesen zusammen. Wir wohnten im gleichen Plattenbaublock, nur im anderen Aufgang. Ich arbeitete in einem Kinderwohnheim. Manchmal kamen vietnamesische Familien zu uns, wenn wir Feste feierten, und wir gingen zu ihren Feiern auf der großen Wiese vor dem Sonnenblumenhaus. Lichtenhagen war ein begehrter Stadtteil. SED-Funktionäre wohnten mit uns im Block; Militärs, Volkspolizisten, Marineoffiziere – hohe Genossen. Nach dem Mauerfall wurden viele davon arbeitslos. Auch die Vietnamesen mussten sich umorientieren. Die meisten waren bis dahin in einem Stoffkombinat oder am Hafen angestellt, dort gab es kaum mehr Arbeit. Viele gingen zurück in ihre Heimat, einige blieben.
Ich erinnere mich noch, wie ich im August 1992 plötzlich eine Nachricht bekam: Unser Kinderwohnheim solle evakuiert werden, hieß es von den Behörden. Man fürchtete, dass die rechte Gewalt im Viertel eskalieren würde. Und so kam es auch. Von unserer Wohnung im ersten Geschoss aus beobachteten wir den Mob. Alles war voller Tränengas. Auch bei geschlossenem Fenster juckten die Augen. Dann sah ich, dass Flammen aus dem Haus züngelten. Ich rief die Feuerwehr. Es kam keiner – eine unendliche Zeit lang. Ich rief noch mal an, sagte: “Verdammt noch mal, wo bleibt ihr? Es brennt lichterloh.” Irgendwann klingelte es bei uns. Zwölf Erwachsene und noch mehr Kinder. Sie waren vor den Flammen geflüchtet und über die Fensterluke von einem Dach aufs andere geklettert. Dann das Treppenhaus runter, in jeder Etage hatten sie geklingelt. Keiner öffnete. Sie mussten bis zu uns, ins erste Geschoss.
Von den Nachbarn sprach später niemand darüber. Es wurde einfach weggeschwiegen. Mein Mann und ich sind 1997 weggezogen, wir haben uns in einem benachbarten Dorf ein kleines Haus gebaut. In Lichtenhagen bin ich nur sehr selten.
Rosemarie Melzer, 72, ist Rentnerin
“Ich werde bis heute emotional”
Diese Art von Schutz half allerdings nichts in jenen Augusttagen von 1992. Als die Rechtsextremen unser Haus bedrängten, versuchten wir uns zu organisieren. Wir bildeten Gruppen, jede Etage hatte einen Abgesandten. Es gab auch Hitzköpfe, manche kippten heißes Wasser aus dem Fenster. Wichtig war, dass die Rechten nicht über die Balkone reinkamen. Einer von uns tickte aus, warf eine Autobatterie aus dem neunten Stock. Die Polizei nahm ihn sofort fest. Die grölenden Menschen vor dem Haus ließen sie in Ruhe. Nur unserer Selbstbefreiungsaktion ist es zu verdanken, dass es keine Toten gab. Mit Brechstangen, Tischbeinen und allem, was wir fanden, versuchten wir einen Durchbruch zum Nachbarhaus zu hämmern – das klappte nicht. Andere haben sich an der Dachluke zu schaffen gemacht, die dann unsere Rettung war. Einmal kamen 50 Linke, die riefen “Hoch die internationale Solidarität” und sorgten für ein paar Stunden Ruhe. Dass die Polizei das nicht konnte, war mir unbegreiflich.
Wenige Tage danach, wir waren in einem Schulheim untergebracht, beschlossen wir: Wir müssen einen Verein gründen, wir nannten ihn Diên Hông und erhoben unsere Stimmen. Ich denke, das hat dazu beigetragen, dass die Politik entschied, vietnamesischen Vertragsarbeitern nach fünf Jahren in Deutschland einen längerfristigeren Aufenthaltstitel zu geben. Ich selber studierte und wurde Sozialarbeiter. Ich gab auch viele Interviews, aber irgendwann war ich müde, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Ich werde, wenn ich von Lichtenhagen erzähle, bis heute emotional, steigere mich in die Gefühle von damals hinein. Andererseits fühle ich mich verpflichtet, vor allem gegenüber jungen Leuten, das immer wieder zu erzählen.
Nguyen Do Thinh, 60, wurde in der DDR Maschinenbaumeister, nun ist er Unternehmer
“Ich schlug zu. Immer und immer wieder”
Ich gehörte zu einer speziellen Einheit des Bundesgrenzschutzes, unsere Kaserne lag in Ratzeburg. Wir waren trainiert darauf, in schwierigsten Situationen eingesetzt zu werden. Aber was vor dem Sonnenblumenhaus passierte, überforderte selbst uns, in jedem Fall mich. Die Bilder haben sich eingebrannt: angetrunkene Männer in Feinrippunterhemden und mit Hass in den Augen. Die Nachbarn, die sie anfeuerten. Der Steinhagel. Molotowcocktails zischten durch die Luft. Alles brannte: das Hochhaus, ein Wasserwerfer, sogar Polizeikollegen. Damals waren unsere Uniformen noch aus entflammbarem Kunststoff. Adrenalin und Angst suchten sich bei mir einen Ausweg. Ich schlug zu. Immer und immer wieder.
Kurz nach Lichtenhagen wurde mir klar, dass ich nicht mehr als Bundespolizist arbeiten möchte. Die Bilder von dem Einsatz schreckten mich ständig aus dem Schlaf. Ich ging zum Arbeitsamt. Dort guckten sie mich mit mitleidigen Blicken an, stuften mich als Hilfsarbeiter ein. Ich wurde erst Krankenpfleger, aber irgendwann zog es mich zurück zur Polizei, dafür habe ich noch mal studiert. In einer Vorlesung erstarrte ich: Die Professorin erklärte die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Bei jedem Symptom machte ich einen imaginären Haken: Das bin ich.
Früher habe ich mich gefragt: Warum reagiere ich so auf diese Ereignisse? Erst später konnte ich sagen: Es war eine normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis. Ich wurde Kripobeamter und bin inzwischen Dozent an der Polizeifachhochschule. Wäre ich nicht in Rostock-Lichtenhagen gewesen, mein Leben wäre sicher anders verlaufen. Andererseits habe ich in den vergangenen 30 Jahre viel über Menschen gelernt. Das kann ich heute an junge Polizeistudenten weitergeben.
Oliver Pohl, 52, arbeitet an der Fachhochschule für Verwaltung in Altenholz, Schleswig-Holstein
“Das ist ein gefährliches Land für uns”
Zunächst arbeitete ich im Möbelkombinat in Weimar, später kam ich nach Rostock. Ich habe mich am Anfang oft allein gefühlt, hatte Heimweh. Nach dem Feuer in Lichtenhagen gingen wir nachts kaum mehr vor die Tür, und wenn, dann nie allein. Wir wussten: Das ist nun ein gefährliches Land für uns. Mein Vater wollte, dass ich zurückkomme. Aber ich wollte den Kapitalismus erleben, der gerade erst aufkam. Allerdings wussten wir nicht, wie lange wir bleiben dürfen. Deshalb galt: so viel Geld wie möglich verdienen. Ich habe Zigaretten verkauft und Klamotten, in Imbissen gearbeitet, meine Frau schrubbte als Reinigungskraft; wir arbeiteten oft mehr als zwölf Stunden am Tag, bekamen Kinder, schufteten weiter.
Irgendwann lief es besser, wir machten einen kleinen Imbiss auf, dann einen großen. Ich wollte dennoch nicht bleiben in diesem Land, das uns nicht wollte. Das war mein Gefühl seit 1992. Wir fragten die Kinder: “Wollen wir gehen?” Sie sagten: “Geht ihr doch. Wir bleiben.” Ich habe meine Heimat verloren. Ich wollte nicht, dass meine Kinder ihre verlieren. Deshalb sind wir noch da.
Nguyen Van Khai, 54, betreibt heute ein Restaurant in Rostock
“Es war fürchterlich: Der Hass. Die Parolen”
Ngac Nguyen Trong, 73, ist inzwischen Rentner
“Wir konnten ihnen nicht viel entgegensetzen”
Angela Marquardt, 50, arbeitet für den Datenschutzbeauftragten der Bundesregierung
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Bron: Die Zeit – 13 augustus 2022 – Ingekorte versie in DIE ZEIT 33/2022
Uitgelichte foto: © Martin Pauer für ZEIT im Osten