Herinneren op andere wijze

Maja Hitij: Das Holocaust-Mahnmal in Berlin, fotografiert am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2021
“Erinnerung findet immer in der Gegenwart statt”, sagt Michael Rothberg.


 
Als im Februar die deutschsprachige Übersetzung des im englischsprachigen Original bereits im Jahr 2009 erstmals erschienenen Buchs “Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization” des Literaturwissenschaftlers Michael Rothberg herauskam, entzündete sich daran eine neue Debatte um die Erinnerungskultur gerade auch in Deutschland. In Texten etwa in der “Welt” ebenso wie der “taz” wurden Rothbergs Thesen kritisch hinterfragt. Welche aber genau sind das? Das Gespräch mit Rothberg, der an der University of California in Los Angeles lehrt, wurde per E-Mail auf Englisch geführt und später ins Deutsche übersetzt.
 
 

MICHAEL ROTHBERG:“WIR BRAUCHEN NEUE WEGE, UM ÜBER ERINNERUNG NACHZUDENKEN”

Was bedeutet heute die Erinnerung an den Holocaust? Ein Gespräch mit Michael Rothberg, dessen Buch “Multidirektionale Erinnerung” in Deutschland auf Kritik stößt.

Interview: 

 

ZEIT ONLINE: Die Erinnerung ist in die Debatte zurückgekehrt. Wie lässt sich heute an das singuläre Menschheitsverbrechen des Holocausts erinnern – während die Opfer des Kolonialismus, die Kriegsflüchtlinge und Migranten um die Erinnerung an ihre Traumata ringen?

Michael Rothberg: Erinnerung findet immer in der Gegenwart statt: Definitionsgemäß stellt sie eine Verbindung zwischen dem Moment des Erinnerns und der Vergangenheit her, an die erinnert wird. Diese grundlegende Eigenschaft des Gedächtnisses bedeutet, dass die Erinnerung an den Holocaust, wie singulär er historisch auch ist, notwendigerweise relational sein wird – das heißt mit anderen Geschichten und mit der Gegenwart, aus der heraus man an ihn erinnert, in Verbindung stehen wird.

ZEIT ONLINE: Welche Gegenwart ist das?

Rothberg: In den vergangenen 30 Jahren ist das Holocaust-Gedenken globalisiert worden und entwickelte sich zur Grundlage der “negativen Erinnerung” Deutschlands und Europas. So kam es natürlich noch enger in Berührung mit einer Reihe anderer Themen, die zentral für die europäische Identität sind: die Ost-West-Spaltung, die Frage des kolonialen Erbes, die Migration sowie die Flüchtlingsströme, jüngst dann der Aufstieg der Rechtsextremen. All dies geschieht mitten in einem Generationenwechsel, während die Augenzeuginnen des Zweiten Weltkriegs von der Bühne abtreten. Der Holocaust muss selbstverständlich einen herausragenden Platz im kollektiven europäischen Gedächtnis einnehmen. Wir brauchen aber neue Wege, um relational über jene Erinnerung nachzudenken.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie mit neuen Wegen? Wie lassen sich die Einzigartigkeit des Holocausts und der Vergleich mit anderen massenmörderischen Verbrechen zusammendenken?

Rothberg: Mit neuen Wegen meine ich, dass wir wissenschaftliche Methoden – ebenso wie öffentliche Erinnerungskulturen – brauchen, die sich nicht scheuen, relational über den Holocaust nachzudenken, auch wenn sie sich vor der Relativierung und Verharmlosung aller Formen von historischer Gewalt schützen müssen. Wie Sie wissen, bin ich nicht Historiker, sondern Literaturwissenschaftler. In meinem Buch Multidirektionale Erinnerung untersuche ich mithin, wie des Holocausts im Verhältnis zu anderen Gewalterinnerungen gedacht worden ist – vor allem denen des Kolonialismus und der Sklaverei. Mein Hauptargument betrifft die Dynamik: Ich behaupte, dass sich die kollektiven Erinnerungen an verschiedene Geschichten im Dialog miteinander entwickeln und dass der Dialog und die Spannung etwas Produktives sind. Dies schließt die Beobachtung ein, dass die öffentliche Wahrnehmung des Holocausts von Anfang an im Zusammenhang der Dekolonisierung erfolgte, also just zu dem Zeitpunkt, als auch die kolonialen Hinterlassenschaften verarbeitet wurden. Sowohl jüdische Intellektuelle als auch Intellektuelle aus den Kontexten der schwarzen Diaspora und des Kolonialismus – darunter Hannah Arendt, Aimé Césaire, W. E. B. Du Bois und André Schwarz-Bart – reflektierten den Holocaust zusammen mit der Geschichte der kolonialen und rassistischen Gewalt in der frühen Nachkriegszeit. Diese Tradition – oder vielleicht Gegentradition – besteht bis heute.

ZEIT ONLINE: Aber welches sind die Kriterien des Vergleichens?

Rothberg: Wenn ich verallgemeinern müsste, würde ich sagen, dass Vergleiche zwischen dem Holocaust und anderen Gewaltgeschichten für mich dann am erhellendsten sind, wenn sie uns aufzeigen können, was manche Ereignisse gemeinsam haben, etwa, wie Feindgruppen definiert werden oder welche Rolle Bürokratien bei Massenmorden spielen, aber auch, was sie unterscheidet – im Ausmaß der Gewalt oder in den Mitteln der Zerstörung.

ZEIT ONLINE: Nehmen wir ein Beispiel Ihres Buchs: Sie berichten, wie der Schwarze Intellektuelle W. E. B. Du Bois im Jahr 1949 die Ruinen des Warschauer Ghettos besucht. Sie schreiben, wie er dort sowohl “die präzedenzlose Radikalität des Holocausts” erkannte “wie auch seine Verbindungen zu der ganz anderen Form des Rassismus, die er als Schwarzer Amerikaner erlebt hatte”. Was genau ist präzedenzlos? Was genau sind die Verbindungen?

Rothberg: Was Du Bois 1949 in Warschau sah, war die völlige Zerstörung der Stadt – und vor allem des früheren Ghettos. Er zog eine Verbindung zwischen dieser Vernichtung einer ganzen Infrastruktur und der Vernichtung des jüdischen Volkes, die einige Jahre zuvor stattgefunden hatte. Er erkannte, dass dies nicht dieselbe Form von Gewalt war, die durch Sklaverei und Segregation an den Afroamerikanern verübt worden war – ja, er sagt, dass nichts, was er je gesehen hat, dem “gleichkomme”, was ihm in Warschau vor Augen steht. Er meint aber auch, dass es Möglichkeiten gibt, relational über rassistische Gewalt nachzudenken. Und er erklärt, dass er seine eigene Erfahrung nicht mehr als “getrennt und einzigartig” ansieht. Seine Vorstellung von Geschichten als nicht gleich, aber auch nicht getrennt und einzigartig, stellt für mich geradezu die ethische Version multidirektionaler Erinnerung dar.

ZEIT ONLINE: Wie hängen in dieser Perspektive rassistische Gewalt und Nationalsozialismus zusammen?

Rothberg: Du Bois hat diese Zusammenhänge über die Kategorie der “Rasse” hergestellt: Er verstand den Antisemitismus der Nazis und das, was manche in den USA als “anti-blackness” bezeichnen, als zwei verschiedene Formen von Rassismus. Und Du Bois hatte recht. 2017 veröffentliche der Rechtswissenschaftler James Q. Whitman von der Universität Yale das Buch Hitler’s American Model, das sehr detailliert nachweist, wie die Nazis die US-Rassengesetzgebung studierten, während sie an der Formulierung der späteren Nürnberger Gesetze arbeiteten. Sie ließen sich von der amerikanischen Gesetzgebung zu Einwanderung und Mischehen anregen, ganz zu schweigen vom Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern, und versuchten herauszufinden, wie sie diese auf Deutschland übertragen könnten. Das wirklich Unglaubliche an Whitmans Befunden war, dass die radikalsten Nazis am meisten von den amerikanischen Rassengesetzen angetan waren und dass die Nürnberger Gesetze am Ende in gewisser Hinsicht weniger radikal ausfielen als vergleichbare amerikanische Gesetze, insofern die Definition “des Juden” im Nazirecht enger war als die Definition Schwarzer Menschen in den Vereinigten Staaten mit ihrer “One-Drop-Regel” – der zufolge ein Tropfen schwarzen Bluts jemanden zum Schwarzen machte.

ZEIT ONLINE: Ihr Buch, im Original vor zwölf Jahren erschienen, jetzt erst ins Deutsche übersetzt, ist hierzulande auf viel Kritik gestoßen. Sie gilt im Kern der Gefahr der Verharmlosung des Holocausts. Die Erfahrungen des Historikerstreits stecken dem deutschen Publikum noch in den Knochen: Der Vergleich mit dem sowjetischen Gulag, den Konservative wie Ernst Nolte zogen, war auch eine Methode, die Verantwortlichkeit der Deutschen für den Holocaust zu relativieren: Sie haben ja nur reagiert …

Rothberg: Das Problem mit Nolte und den anderen konservativen Intellektuellen der Achtzigerjahre bestand nicht einfach darin, dass sie den Holocaust verglichen, sondern wie und warum sie ihn verglichen. Anders gesagt: Wir brauchen eine Ethik des Vergleichens in solchen Fällen: um sehen zu können, wann ein Vergleich im Namen der Solidarität zwischen verschiedenen Opfergruppen durchgeführt wird und wann er dem ausdrücklichen Zweck der Entlastung dienen soll, wie es bei Nolte der Fall war. Wir müssen Vergleiche vergleichen! Die heutige Situation ist eine andere. Unter denen, die an Deutschland appellieren, sich der Verantwortung für seine Kolonialgeschichte zu stellen, kenne ich keinen Einzigen, der eine “Verharmlosung” des Holocausts fordert.

ZEIT ONLINE: Sie argumentieren, Erinnerung solle multidirektional sein, ohne dass ein Wettbewerb unter den Opfern entstehe. Einer Ihrer deutschen Kritiker hält dem nun entgegen: “Es wäre die Arena geöffnet für eine Konkurrenz der Gedenkkulturen und der Opfergruppen um die Ressourcen der Aufmerksamkeit und der Empathie.” Was antworten Sie?

Rothberg: Natürlich gibt es in allen Gesellschaften Kämpfe um Anerkennung und Ressourcen. Ich bezweifle, dass sich das völlig vermeiden lässt. Mein Buch wendet sich aber gegen ein Verständnis von Erinnerungskonflikten als Nullsummenspiel, also gegen die Vorstellung, dass sich Erinnerungen automatisch gegenseitig in der Öffentlichkeit verdrängen müssen. Manche Ressourcen gehorchen wahrscheinlich in der Tat einer solchen Logik; das Gedächtnis, glaube ich, nicht. Mir scheint, es sind vor allem die von Ihnen erwähnten Kritiker meines Buches, die heute einen Opferwettbewerb in Deutschland veranstalten. Ich sehe vielmehr Menschen, die sagen, dass es möglich ist, verschiedene Erinnerungen gleichzeitig anzuerkennen. Selbst wenn die Geschichten per se ganz unterschiedlich sind – etwa die Geschichte der Kolonialisierung in Afrika und die Geschichte des Holocausts –, so ist es doch eine Tatsache, dass sie immer noch genauso miteinander verflochten sein können wie ihr Gedenken.

ZEIT ONLINE: Zum Beispiel?

Rothberg: Nehmen wir beispielsweise das Grundstück des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik – das heute der Freien Universität in Berlin gehört. In den letzten Jahren wurden dort menschliche und tierische Überreste von Experimenten des KWI gefunden. Soweit wir wissen, stammen diese Überreste sowohl aus dem nationalsozialistischen Lagersystem als auch von früheren anthropologischen Studien in der Kolonialzeit. Ein solcher archäologischer Fund spricht für die Notwendigkeit, relational über die Geschichten des Kolonialismus und des Nationalsozialismus nachzudenken, und er spricht dafür, dass wir diese beiden Geschichten im öffentlichen Erinnern nur aufarbeiten können, wenn wir multidirektionale Formen des Gedenkens entwickeln, die, wie Du Bois sagt, unterschiedliche Formen von Gewalt weder “gleichsetzen” noch als voneinander “getrennt” behandeln müssen.

ZEIT ONLINE: Wer aus dem Land der Täter kommt, in dem heute Rechtsextreme die Synagogen angreifen und der Nationalsozialismus als “Vogelschiss” in der Geschichte Deutschlands bezeichnet wird, hält aus guten Gründen daran fest, die schwer errungenen Standards der Erinnerungskultur aufrechtzuerhalten. Dazu gehört, die Einzigartigkeit des Holocausts zu betonen. Ihre Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie dies nicht klar genug machen.

Rothberg: Zunächst einmal halte ich es als Jude und als jemand, der mehrere Bücher über den Holocaust veröffentlicht und im Laufe von 25 Jahren unzählige Studierende über dieses Thema unterrichtet hat, für eine Ironie, dass deutsche Kritiker mich darüber belehren wollen, wie man den Holocaust zu erinnern und den Antisemitismus zu bekämpfen hat. Zweitens sollten wir die Tatsache in Rechnung stellen, dass es während der gesamten Zeit, in der die nationale Einigkeit über die Einzigartigkeit des Holocausts Bestand hatte, immer wieder rassistische Angriffe in Deutschland gab. Wir müssen uns also schon fragen, wie effektiv diese Version der Erinnerungskultur bei der Verwirklichung ihrer Losung “Nie wieder!” war. Für mich ist gerade die große Bandbreite jüdischer, migrantischer und minoritärer Opfer von rassistischen Angriffen – in Halle und Hanau zum Beispiel – ein Hinweis darauf, warum wir vergleichend über Gewaltgeschichten nachdenken müssen.

ZEIT ONLINE: Sie arbeiten als Literaturhistoriker mit Quellen aus der Kunst, der Fiktion, des Films. Heute wird im Kampf gegen halbfiktionale Halbwahrheiten um die Fakten der Nazigeschichte gerungen. Ist es nicht eine Gefahr, dass ausgerechnet die heikelsten Begriffe unscharf werden, wenn man sie durch Beispiele aus der Kunst illustriert?

Rothberg: Mit seltenen Ausnahmen stellen Literaturwissenschaftler keine Behauptungen mit historischem Wahrheitsanspruch auf der Grundlage von Werken der Literatur oder Kunst auf. Doch können Literatur und Kunst der historischen Gelehrsamkeit durch die Behandlung vergessener Ereignisse manchmal “voraus” sein, und solche Werke können uns auch zu wichtigen Einsichten in subjektive Erfahrungen oder philosophische Dilemmata verhelfen. Der Punkt, den ich in diesem Zusammenhang machen möchte, ist jedoch der, dass ästhetische Werke das kollektive Gedächtnis gewaltig beeinflussen, ob es uns gefällt oder nicht, und das allein ist schon der Untersuchung wert. Ein ausgezeichnetes Beispiel ist die Wirkung der Fernsehserie Holocaust von 1978. Elie Wiesel verurteilte sie als “unwahr, beleidigend und billig”, doch hatte die Serie einen enormen Einfluss auf die deutsche Öffentlichkeit. Solche Beiträge zur öffentlichen Erinnerung sind es, um die es mir in Multidirektionale Erinnerung vor allem geht.

ZEIT ONLINE: Ihr Konzept der Erinnerung trage dazu bei, den Universalismus der Menschenrechte zu verabschieden, hat ein Kritiker beklagt. Ein anderer dagegen schätzt Ihr Buch, weil es endlich den Weg für eine universalistische Solidarität mit allen Opfern öffne. Wie halten Sie es mit dem Universalismus? Konkret: War Kant für Sie vor allem Rassist oder vor allem der Erfinder der Menschenrechte?

Rothberg: Ich bin kein anti-universalistischer Intellektueller, doch die Version vom Universalismus, die manche meiner Kritikerinnen aufbieten, kommt mir partikularistisch vor. Sie scheinen vergessen zu haben, was Horkheimer und Adorno “Dialektik der Aufklärung” nannten. Sie wollen die europäische Aufklärung reklamieren, als ließen sich Phänomene wie der Holocaust und der Kolonialismus chirurgisch aus der europäischen Kultur herauslösen. Das ist unmöglich. Ich habe kein besonderes Interesse an der Debatte über Kant, aber eine analoge Figur in meinem Buch wäre Hannah Arendt. Obwohl ich darauf gar nicht hinauswollte, kam ich doch an der Schlussfolgerung nicht vorbei, dass Arendts Denken trotz ihrer vielen Einsichten in die Beziehung zwischen dem Imperialismus und dem, was sie Totalitarismus nannte, auch durch eine problematische Wiederholung kolonialer Rassenvorstellungen geprägt war. Doch war das für mich kein Grund, Arendt ad acta zu legen. Ich habe vielmehr versucht, sowohl die Einsichten, die wir aus ihr gewinnen können, als auch die blinden Flecke aufzuzeigen, an denen ihr Denken an seine Grenzen stößt. Und tatsächlich erwiesen sich Arendts Überlegungen zu kollektiver Verantwortung als entscheidend für mein jüngstes Buch, The Implicated Subject. Statt Denkerinnen und intellektuelle Traditionen zu heroisieren, sollten wir Zwischentöne und Widersprüche zulassen. Zwischentöne aber scheinen in der öffentlichen Debatte Mangelware zu sein.

Aus dem Englischen von Michael Adrian

 


BRON
Die Zeit27 maart 2021




Uitgelichte foto:  © Maja Hitij/​Getty Images

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