Jürgen Habermas

Fra Angelico: Het laatste oordeel (1431)




Met stijgende verbazing heb ik onderstaande bijdrage van Habermas gelezen, waarvan de kern behelst om zo snel mogelijk tot vredesonderhandelingen over te gaan. Dat de diplomatie voor de invasie al faalde omdat het niet paste in het draaiboek van de USA-NATO laat hij buiten beschouwing, des te opvallender omdat dergelijke politiek nauw aansluit bij de door de Verenigde Staten gevoerde strategie van uitlokking, wetende dat een kat in het nauw rare sprongen maakt. Toch reproduceer ik zijn artikel vanwege de heldere formuleringen, maar vooral als tijdsdocument van een gezaghebbende en verontruste stem, waarvan er slechts weinigen zijn en die we niet mogen negeren.
 
 

EIN PLÄDOYER FÜR VERHANDLUNGEN

Der Westen liefert aus guten Gründen Waffen an die Ukraine: Daraus aber erwächst eine Mitverantwortung für den weiteren Verlauf des Krieges. Ein Gastbeitrag.

Jürgen Habermas

 
Die Entscheidung über die Lieferung von Leopard-Panzern war soeben als „historisch“ begrüßt worden, schon wurde die Nachricht von lautstarken Forderungen nach Kampfflugzeugen, Langstreckenraketen, Kriegsschiffen und U-Booten überboten – und relativiert. Die ebenso dramatischen wie verständlichen Hilferufe einer völkerrechtswidrig überfallenen Ukraine fanden im Westen ihr erwartbares Echo. Neu war hier nur die Beschleunigung des bekannten Spiels der moralisch entrüsteten Rufe nach schlagkräftigeren Waffen und dem daraufhin, wenn auch nach Zögern, immer wieder vollzogenen upgrading der zugesagten Waffentypen.

Auch aus Kreisen der SPD hörte man nun, dass es keine „roten Linien“ gebe. Bis auf den Bundeskanzler und dessen Umgebung nehmen sich Regierung, Parteien und Presse beinahe geschlossen die beschwörenden Worte des litauischen Außenministers zu Herzen: „Wir müssen die Angst davor überwinden, Russland besiegen zu wollen.“ Aus der unbestimmten Perspektive eines „Sieges“, der alles Mögliche heißen kann, soll sich jede weitere Diskussion über das Ziel unseres militärischen Beistandes – und über den Weg dahin – erledigen. So scheint der Prozess der Aufrüstung eine eigene Dynamik anzunehmen, zwar angestoßen durch das nur zu verständliche Drängen der ukrainischen Regierung, aber bei uns angetrieben durch den bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung, in der das Zögern und die Reflexion der Hälfte der deutschen Bevölkerung nicht zu Worte kommen. Oder doch nicht ganz?

Inzwischen tauchen nachdenkliche Stimmen auf, die nicht nur die Haltung des Kanzlers verteidigen, sondern auch auf ein öffentliches Nachdenken über den schwierigen Weg zu Verhandlungen drängen. Wenn ich mich diesen Stimmen anschließe, dann gerade weil der Satz richtig ist: Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren! Mir geht es um den vorbeugenden Charakter von rechtzeitigen Verhandlungen, die verhindern, dass ein langer Krieg noch mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert und uns am Ende vor eine ausweglose Wahl stellt: entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen.

Der Krieg zieht sich hin, die Zahl der Opfer und der Umfang der Zerstörungen schwellen an. Soll nun die Eigendynamik unserer aus guten Gründen geleisteten militärischen Hilfe ihren defensiven Charakter abstreifen, weil nur ein Sieg über Putin das Ziel sein kann? Das offizielle Washington und die Regierungen der anderen Nato-Mitgliedstaaten waren sich von Anbeginn einig, vor dem point of no return – dem Kriegseintritt – haltzumachen.

Das offensichtlich strategisch und nicht nur technisch begründete Zögern, auf das Bundeskanzler Scholz beim amerikanischen Präsidenten schon an der Schwelle der Lieferung von Kampfpanzern gestoßen ist, hat diese Prämisse des westlichen Beistandes für die Ukraine noch einmal bestätigt. Bisher richtete sich die Sorge des Westens auf das Problem, dass es allein in der Hand der russischen Führung liegt zu definieren, ab wann diese das Ausmaß und die Qualität westlicher Waffenlieferungen als Kriegseintritt betrachtet.

Aber seitdem sich auch China zur Ächtung des Einsatzes von ABC-Waffen bekannt hat, ist diese Sorge in den Hintergrund gerückt. Deshalb sollten sich die westlichen Regierungen lieber mit der Verschiebung dieses Problems beschäftigen. Aus der Perspektive eines Sieges um jeden Preis hat die Qualitätssteigerung unserer Waffenlieferungen eine Eigendynamik entwickelt, die uns mehr oder weniger unbemerkt über die Schwelle zu einem dritten Weltkrieg hinaustreiben könnte. Man sollte deshalb jetzt „nicht jede Debatte darüber, wann Parteilichkeit tatsächlich in Parteisein umschlagen könnte, mit dem Argument tottreten, dass man allein schon durch so eine Debatte das Geschäft Russlands besorge“. (Kurt Kister im Feuilleton der SZ vom 11./12. Februar 2023.)
 

Nur die Ukraine kann über die Möglichkeiten von Verhandlungen entscheiden? Das ist inkonsistent und verantwortungslos

Das Schlafwandeln am Rande des Abgrundes wird vor allem deshalb zu einer realen Gefahr, weil die westliche Allianz der Ukraine nicht nur den Rücken stärkt, sondern unermüdlich versichert, dass sie die ukrainische Regierung so „lange wie nötig“ unterstützt und dass die ukrainische Regierung allein über Zeitpunkt und Ziel möglicher Verhandlungen entscheiden kann. Diese Beteuerung soll den Gegner entmutigen, aber sie ist inkonsistent und verschleiert Differenzen, die auf der Hand liegen. Vor allem kann sie uns selbst über die Notwendigkeit täuschen, eigene Initiativen für Verhandlungen zu ergreifen.

Einerseits ist es trivial, dass nur eine am Krieg beteiligte Partei über ihr Kriegsziel und gegebenenfalls über den Zeitpunkt von Verhandlungen bestimmen kann. Andererseits hängt es auch von der Unterstützung des Westens ab, wie lange die Ukraine überhaupt durchhalten kann.

Der Westen hat eigene legitime Interessen und eigene Verpflichtungen. So operieren die westlichen Regierungen in einem weiteren geopolitischen Umkreis und müssen andere Interessen berücksichtigen als die Ukraine in diesem Krieg; sie haben rechtliche Verpflichtungen gegenüber den Sicherheitsbedürfnissen der eigenen Bürger und tragen auch, ganz unabhängig von den Einstellungen der ukrainischen Bevölkerung, eine moralische Mitverantwortung für Opfer und Zerstörungen, die mit Waffen aus dem Westen verursacht werden; daher können sie auch die Verantwortung für die brutalen Folgen einer nur dank ihrer militärischen Unterstützung möglichen Verlängerung des Kampfgeschehens nicht auf die ukrainische Regierung abwälzen.

Dass der Westen wichtige Entscheidungen selber treffen und verantworten muss, zeigt sich auch an jener Situation, die er am meisten fürchten muss – nämlich die erwähnte Situation, in der ihn eine Überlegenheit der russischen Streitkräfte vor die Alternative stellen würde, entweder einzuknicken oder zur Kriegspartei zu werden.
 

Fatal ist, dass der Unterschied zwischen „nicht verlieren“ und „siegen“ nicht begrifflich geklärt ist

Auch aus näherliegenden Gründen wie der Erschöpfung von personellen Reserven und kriegsnotwendigen materiellen Ressourcen drängt die Zeit zu Verhandlungen. Der Zeitfaktor spielt ebenso für die Überzeugungen und Dispositionen in der Breite der westlichen Bevölkerungen eine Rolle. Dabei ist es zu einfach, die Positionen in der strittigen Frage des Zeitpunkts von Verhandlungen auf den schlichten Gegensatz von Moral und Selbstinteresse zurückzuführen. Es sind vor allem moralische Gründe, die auf ein Ende des Krieges drängen.

So hat die Dauer des Kriegsgeschehens Einfluss auf die Perspektiven, aus der die Bevölkerungen dieses Geschehen wahrnehmen. Je länger ein Krieg dauert, umso stärker drängt sich die Wahrnehmung der insbesondere in modernen Kriegen explodierenden Gewalt auf und bestimmt die Sicht auf das Verhältnis von Krieg und Frieden überhaupt. Mich interessieren diese Sichtweisen im Hinblick auf die in der Bundesrepublik allmählich einsetzende Diskussion über Sinn und Möglichkeit von Friedensverhandlungen.

Zwei Perspektiven, aus denen wir Kriege wahrnehmen und bewerten, haben bei uns schon zu Beginn des Ukrainekrieges in dem Streit über zwei vage, aber konkurrierende sprachliche Formulierungen des Kriegszieles ihren Ausdruck gefunden: Ist es das Ziel unserer Waffenlieferungen, dass die Ukraine den Krieg „nicht verlieren“ darf, oder zielen diese nicht vielmehr auf einen „Sieg“ über Russland?

Dieser begrifflich ungeklärte Unterschied hat zunächst mit einer Parteinahme für oder gegen Pazifismus wenig zu tun. Zwar hat die am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende pazifistische Bewegung die Gewaltdimension von Kriegen politisiert, aber das eigentliche Thema ist dabei nicht die schrittweise Überwindung von Kriegen als Mittel der Beilegung internationaler Konflikte, sondern die Weigerung, überhaupt Waffen in die Hand zu nehmen. Insoweit spielt der Pazifismus keine Rolle für jene beiden Perspektiven, die sich nach der Gewichtung der Kriegsopfer voneinander differenzieren.

Das ist wichtig, weil die rhetorische Nuancierung zwischen den Ausdrücken, den Krieg „nicht zu verlieren“ oder „zu gewinnen“, nicht schon Pazifisten von Nicht-Pazifisten trennt. Heute charakterisiert sie nämlich auch Gegensätze innerhalb jenes politischen Lagers, das die westliche Allianz nicht nur für berechtigt, sondern für politisch verpflichtet hält, der Ukraine in ihrem mutigen Kampf gegen den völkerrechtswidrigen, ja kriminell geführten Angriff auf Existenz und Unabhängigkeit eines souveränen Staates mit Waffenlieferungen, logistischer Unterstützung und zivilen Leistungen beizustehen.
 

Seit Monaten ist der Frontverlauf eingefroren. Es erinnert an die Westfront im Jahre 1916

Diese Parteinahme ist mit Sympathie für das Leidensschicksal einer Bevölkerung verbunden, die nach vielen Jahrhunderten polnischer und russischer, auch österreichischer Fremdherrschaft erst mit dem Untergang der Sowjetunion ihre staatliche Unabhängigkeit errungen hat. Die Ukraine ist unter den verspäteten europäischen Nationen die allerspäteste. Sie ist wohl immer noch eine Nation im Werden.

Aber auch in dem breiten Lager der parteinehmenden Unterstützer der Ukraine scheiden sich die Geister gegenwärtig im Hinblick auf den richtigen Zeitpunkt für Friedensverhandlungen. Die eine Seite identifiziert sich mit der Forderung der ukrainischen Regierung nach einer schwellenlos anwachsenden militärischen Unterstützung, um Russland zu besiegen und damit die territoriale Integrität des Landes einschließlich der Krim wiederherzustellen. Der andere Teil möchte die Versuche forcieren, einen Waffenstillstand und Verhandlungen herbeizuführen, die mindestens mit der Wiederherstellung des status quo ante vom 23. Februar 2022 eine mögliche Niederlage abwenden. In diesem Für und Wider spiegeln sich historische Erfahrungen.

Es ist kein Zufall, dass dieser schwelende Konflikt jetzt auf Klärung drängt. Seit Monaten ist der Frontverlauf eingefroren. Unter dem Titel „Der Abnutzungskrieg begünstigt Russland“ berichtet beispielsweise die FAZ über den für beide Seiten verlustreichen Stellungskrieg um Bachmut im Norden des Donbass und zitiert die erschütternde Aussage eines leitenden Nato-Funktionärs: „Es sieht dort aus wie in Verdun.“ Vergleiche mit dieser grauenhaften, der längsten und verlustreichsten Schlacht des Ersten Weltkrieges haben mit dem Ukrainekrieg nur entfernt und nur insofern etwas zu tun, als ein anhaltender Stellungskrieg ohne größere Veränderungen des Frontverlaufs gegenüber dem „sinngebenden“ politischen Ziel des Krieges vor allem das Leiden seiner Opfer zu Bewusstsein bringt. Der erschütternde Frontbericht von Sonja Zekri, der seine Sympathien nicht verhehlt, aber auch nichts beschönigt, erinnert tatsächlich an Darstellungen des Grauens an der Westfront von 1916. Soldaten, „die sich an die Kehle gehen“, Berge von Toten und Verwundeten, die Trümmer von Wohnhäusern, Kliniken und Schulen, also die Auslöschung eines zivilisierten Lebens – darin spiegelt sich der destruktive Kern des Krieges, der die Aussage unserer Außenministerin, dass wir „mit unseren Waffen Leben retten“, doch in ein anderes Licht rückt.

In dem Maße, wie sich die Opfer und Zerstörungen des Krieges als solche aufdrängen, tritt die andere Seite des Krieges in den Vordergrund – er ist dann nicht nur Mittel der Verteidigung gegen einen skrupellosen Angreifer; im Verlaufe selbst wird das Kriegsgeschehen als die zermalmende Gewalt erfahren, die so schnell wie möglich aufhören sollte. Und je mehr sich die Gewichte vom einen zum anderen Aspekt verschieben, umso deutlicher drängt sich dieses Nichtseinsollen des Krieges auf. In Kriegen hat sich mit dem Wunsch nach der Überwindung des Gegners immer auch der Wunsch nach dem Ende von Tod und Zerstörung verbunden. Und in dem Maße, wie mit der Stärke der Waffen auch die „Verheerungen“ zugenommen haben, haben sich auch die Gewichte dieser beiden Aspekte verschoben.
 

Auch der Westen darf niemals vergessen, was er hier an Opfern für ein legitimes Ziel in Kauf nimmt

Infolge der barbarischen Erfahrungen der beiden Weltkriege und der Nervenanspannung des Kalten Krieges hatte sich während des vergangenen Jahrhunderts in den Köpfen der betroffenen Bevölkerungen allgemein eine latente Begriffsverschiebung vollzogen. Sie hatten aus ihren Erfahrungen oft unbewusst die Konsequenz gezogen, dass Kriege – dieser bis dahin selbstverständliche Modus der Austragung und Lösung internationaler Konflikte – mit den Maßstäben eines zivilisierten Zusammenlebens schlechthin unvereinbar sind.

Der Gewaltcharakter des Krieges hatte gewissermaßen die Aura seiner Naturwüchsigkeit verloren. Diese in der Breite vollzogene Bewusstseinsänderung hat auch in der Rechtsentwicklung Spuren hinterlassen. Schon das humanitäre Kriegsstrafrecht war der nicht sehr erfolgreiche Versuch gewesen, die Gewaltausübung im Kriege zu zähmen. Aber am Ende des Zweiten Weltkrieges sollte die Gewalt des Krieges selbst mit Mitteln des Rechts pazifiziert und durch Recht als dem einzigen Modus der zwischenstaatlichen Konfliktbeilegung abgelöst werden. Die am 24. Oktober 1945 in Kraft getretene Charta der Vereinten Nationen und die Einrichtung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag haben das Völkerrecht revolutioniert. Artikel 2 verpflichtet alle Staaten dazu, ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel beizulegen. Es war die Erschütterung über die Gewaltexzesse des Krieges, aus der diese Revolution geboren worden ist.

In den literarisch bewegenden Worten der Präambel spiegelt sich das Grauen im Anblick der Opfer des Zweiten Weltkriegs. Kernsatz ist der Aufruf, „unsere Kräfte zu vereinen, um…Verfahren einzuführen, die gewährleisten, dass Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird“ – also im völkerrechtlich ausbuchstabierten Interesse der Bürger aller Staaten und aller Gesellschaften dieser Welt. Diese Rücksicht auf die Opfer des Krieges erklärt einerseits die Abschaffung des ius ad bellum, also des ominösen „Rechts“ des souveränen Staates, nach Belieben Krieg zu führen; aber auch die Tatsache, dass die ethisch begründete Lehre vom gerechten Krieg keineswegs erneuert, sondern bis auf das Selbstverteidigungsrecht des Angegriffenen abgeschafft worden ist. Die vielfältigen in Kapitel VII aufgeführten Maßnahmen gegen Angriffshandlungen richten sich gegen den Krieg als solchen, und dies allein in der Sprache des Rechts. Denn dazu reicht der moralische Gehalt aus, der dem modernen Völkerrecht selbst innewohnt.

Im Lichte dieser Entwicklung habe ich die Formel verstanden, dass die Ukraine „den Krieg nicht verlieren darf“. Denn aus dem Moment der Zurückhaltung lese ich die Warnung heraus, dass auch der Westen, der der Ukraine die Fortsetzung des Kampfes gegen einen kriminellen Aggressor ermöglicht, weder die Zahl der Opfer noch das Risiko, dem die möglichen Opfer ausgesetzt sind, noch das Ausmaß der tatsächlichen und potenziellen Zerstörungen vergessen darf, die für das legitime Ziel schweren Herzens in Kauf genommen werden. Von dieser Abwägung der Verhältnismäßigkeit ist auch der selbstloseste Unterstützer nicht entlastet.

Die zögernde Formulierung, „nicht verlieren“ zu dürfen, stellt eine Freund-Feind-Perspektive infrage, die die bellizistische Lösung internationaler Konflikte auch noch im 21. Jahrhundert für „natürlich“ und alternativlos hält. Ein Krieg, und der von Putin vom Zaune gebrochene Krieg erst recht, ist das Symptom eines Rückfalls hinter den historischen Stand eines zivilisierten Umgangs der Mächte miteinander – vor allem unter Mächten, die aus den beiden Weltkriegen ihre Lektion haben lernen können. Wenn der Ausbruch bewaffneter Konflikte nicht durch schmerzhafte, auch für die Verteidiger des gebrochenen internationalen Rechts selbst schmerzhafte Sanktionen verhindert werden kann, ist die gebotene Alternative – gegenüber einer Fortsetzung des Krieges mit immer mehr Opfern – die Suche nach erträglichen Kompromissen.
 

Der Fehler der Allianz war, den Aggressor Russland von Anfang an über das finale Ziel der Unterstützung im Unklaren zu lassen

Der Einwand liegt auf der Hand: Es gibt einstweilen kein Anzeichen dafür, dass sich Putin auf Verhandlungen einlassen würde. Muss er nicht schon aus diesem Grunde militärisch zum Einlenken gezwungen werden? Zudem hat er Entscheidungen getroffen, die die Aufnahme von aussichtsreichen Verhandlungen fast unmöglich machen. Denn mit der Annexion der östlichen Provinzen der Ukraine hat er Fakten geschaffen und Ansprüche zementiert, die für die Ukraine nicht akzeptabel sind.

Andererseits war dies vielleicht eine, wie auch immer unkluge, Antwort auf den Fehler der westlichen Allianz, Russland von Anbeginn über das Ziel ihrer militärischen Unterstützung vorsätzlich im Unklaren zu lassen. Denn das ließ die für Putin unannehmbare Aussicht auf einen regime change offen. Demgegenüber hätte das erklärte Ziel der Wiederherstellung des status quo ante vom 23. Februar 2022 den späteren Weg zu Verhandlungen erleichtert. Aber beide Seiten wollten sich gegenseitig dadurch entmutigen, dass sie weitgesteckte und anscheinend unverrückbare Pflöcke einschlagen. Das sind keine vielversprechenden Voraussetzungen, aber auch keine aussichtslosen.

Denn abgesehen von den Menschenleben, die der Krieg mit jedem weiteren Tag fordert, steigen die Kosten an materiellen Ressourcen, die nicht in beliebigem Umfang ersetzt werden können. Und für die Regierung Biden tickt die Uhr. Schon dieser Gedanke müsste uns nahelegen, auf energische Versuche zu drängen, Verhandlungen zu beginnen und nach einer Kompromisslösung zu suchen, die der russischen Seite keinen über die Zeit vor dem Kriegsbeginn hinausreichenden territorialen Gewinn beschert und doch ihr Gesicht zu wahren erlaubt.

Abgesehen davon, dass westliche Regierungschefs wie Scholz und Macron telefonische Kontakte mit Putin aufrechterhalten, kann auch die in dieser Frage anscheinend gespaltene US-Regierung die formale Rolle eines Unbeteiligten nicht aufrechterhalten. Ein haltbares Verhandlungsergebnis kann nicht ohne die USA in den Kontext von weitreichenden Vereinbarungen eingebettet werden. Daran sind beide kriegführenden Parteien interessiert. Das gilt für Sicherheitsgarantien, die der Westen für die Ukraine gewährleisten muss. Aber auch für das Prinzip, dass die Umwälzung eines autoritären Regimes nur insoweit glaubwürdig und stabil ist, wie sie aus der jeweils eigenen Bevölkerung selbst hervorgeht, also von innen getragen wird.

Der Krieg hat überhaupt die Aufmerksamkeit auf einen akuten Regelungsbedarf in der ganzen mittel- und osteuropäischen Region gerichtet, der über die Streitobjekte der Kriegsparteien hinausreicht. Der Osteuropa-Experte Hans-Henning Schröder, ehemaliger Direktor des Deutschen Instituts für internationale Politik und Sicherheit in Berlin, hat (in der FAZ vom 24. Januar 2023) auf die Abrüstungsvereinbarungen und ökonomischen Rahmenbedingungen hingewiesen, ohne die keine Vereinbarung zwischen den unmittelbar Beteiligten stabilisiert werden kann. Schon die Bereitschaft der USA, sich auf solche Verhandlungen von geopolitischer Reichweite einzulassen, könnte sich Putin zugutehalten.

Gerade weil der Konflikt ein umfassenderes Interessengeflecht berührt, ist nicht von vornherein auszuschließen, dass auch für die einstweilen einander diametral entgegengesetzten Forderungen ein für beide Seiten gesichtswahrender Kompromiss gefunden werden könnte.
 


BRON
Süddeutsche Zeitung14 februari 2023
Die englische Version dieses Textes lesen Sie hier.





LITERATUUR
Vernünftige Freiheit im Online-Kapitalismus? – DAS ARGUMENT 339 – 2022

Uitgelicht: bron

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