Wolkenkratzer in der City of London
In een licht bewerkte vorm volgt nu (het begin van) de dankrede die Joseph Vogl uitsprak bij de ontvangst van de Günther-Anders-Preises für kritisches Denken vorige maand in de Staatsbibliothek Berlin. De slotregels wil ik u alvast niet onthouden:
Im Ressentiment wird die Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen mit plebiszitärer Ermächtigung, mit der Stärkung von Subjektgefühlen und den Gratifikationen eines feindseligen Kollektivs kompensiert. Die Bereicherungspolitik hatte das Amalgam der Vorkriegszeit produziert: Nationalismus, Rechtsfeindschaft, Desinformation, die Zerschlagung internationaler Verträge und Organisationen. Und es scheint, als hätte die Dezivilisierung längst angefangen, bevor der Krieg begann.
Die Macht des Ressentiments
WIE DIE FINANZINDUSTRIE DEN AUTORITÄREN LIBERALISMUS STÄRKT
Joseph Vogl
Wenn wir über die Verknüpfung von „Kapitalismus und Ressentiment“ sprechen – also über das, was Günther Anders „Affektmodellierung“ nennt – , dann ist zunächst daran zu erinnern, dass der Begriff des Kapitalismus, wie er sich seit Ende des 19. Jahrhunderts formiert, nicht einfach auf ein Wirtschaftssystem bezogen wurde. Er umfasst bei Max Weber oder Werner Sombart vielmehr ein Konglomerat aus heterogenen Bestandteilen, zu denen neben Produktionsweisen, Eigentumsverhältnissen, Geschäftspraktiken, Rechtssystemen und politischen Institutionen eben auch gewisse Mentalitäten gehören. Von der Wirtschaftsgeschichte bis hin zur Kritischen Theorie wurde die irrationale Rationalität kapitalistischer Gesellschaften in den Blick gerückt. Und vor diesem Hintergrund erscheint es bemerkenswert, wie bereits in der frühen Neuzeit ein Resonanzraum beschrieben wurde, in dem Marktprozesse und unternehmerische Betriebsamkeit mit der Formierung neuer Affektökonomien verknüpft waren.
So wurde die Gestalt eines ökonomischen Menschen nicht nur als kleine Insel der Rationalität vorgestellt, von der aus man – wie einst Robinson Crusoe – eine unübersichtliche Welt nach den Kriterien von Nutzen und Nachteil zu ordnen vermag. Vielmehr hat sich ein anthropologischer Umbruch vollzogen, mit der sich das gesellige Tier, das alte zoon politikon, zu einem wenig verträglichen Wesen wandelte. Eine umfangreiche Literatur über Konzepte wie „Selbstliebe“ oder „Selbsterhaltung“ belegt, dass man am Beispiel neuer Sozialtypen allenfalls von einer „ungeselligen Geselligkeit“ oder von einem „Volk von Teufeln“ sprechen kann, wie Immanuel Kant dies getan hat.
Und mehr noch: Christliche Hauptlaster wie Geiz oder Neid werden nun positiv gewendet und von der Feststellung begleitet, dass nicht die maßvollen Neigungen, sondern nur die maßlosen wirklich erfinderisch sind. Auf dem Marktplatz, so heißt es, treiben sie sich wechselseitig an, sie balancieren sich und tragen, geführt von einer „unsichtbaren Hand“, zum Wohlstand aller bei. „Private vices / public benefits“, private Laster / öffentliche Vorteile – dieses Motto von Bernard Mandeville prägt nun das Selbstgefühl des neuen Marktsubjekts. Der ökonomische Menschenschlag ist also nicht bloß mit geschäftlichen Talenten, sondern als überaus passioniertes Wesen auf die Welt gekommen, und es verwundert nicht, dass es sich im 19. Jahrhundert, im Zeichen eines expandierenden Industrie- und Finanzkapitalismus, noch einmal reformierte. So hat eine Reihe unterschiedlicher Autoren, die von Tocqueville und Kierkegaard über Nietzsche und Dostojewski bis zu Max Scheler reicht, an der Verfertigung eines Begriffs gearbeitet, der ökonomische Praktiken, Sozialformen und die Dynamik von Gründerzeiten mit dem Format eines modernen Wirtschaftsmenschen kombiniert. Der „Giftdunst unbefriedigter Wünsche“, den Dostojewski auf das Zeitalter der Kristallpaläste bezog und als Symptom seiner Gesellschaft verstand, hat schließlich bei Nietzsche einen begrifflichen Rahmen und den Titel „Ressentiment“ erhalten – herkommend vom französischen „se ressentir de qc.“: die Nachwirkungen oder Folgen einer Sache verspüren.
Ohnmachtsgefühle, Existenzneid und ein Nein zur Außenwelt
Einerseits hat gerade Nietzsche wie kein anderer die spezifischen Merkmale dieses Affektapparats aufgespürt: ein Nein zur Außenwelt, eine Kultivierung von Ohnmachtsgefühlen, Existenzneid und eine gewisse Straffreudigkeit, schließlich die Suche nach konkreten Schuldigen für den eigenen Mangel an Sein. „Irgend jemand muss schuld daran sein, dass ich mich schlecht befinde“ – so hat Nietzsche das dem Ressentiment-Subjekt in den Mund gelegt.
Andererseits sollte man diese Mixtur aus rechnender Vernunft und toxischen Empfindungen nicht einfach als Seelennotstand, sondern als soziales Beziehungsgefüge begreifen, das eine Ressource für die Funktionsweise von Markt- und Konkurrenzsystemen bietet. So hat insbesondere Max Scheler im Ressentiment eine affektive Besetzung von Machtverhältnissen erkannt, die den Strukturen liberaler Wirtschaftsordnungen entspringen und eine Dynamik negativer Vergesellschaftung entwickeln. Demnach treiben die notorischen Divergenzen zwischen formaler Gleichheit und materiellen Ungleichheiten sowie fortlaufende Prozesse des Evaluierens ein dauerhaft erregtes und dauerhaft enttäuschtes „Vergleichsbewusstsein“ hervor. Und zusammen mit einem enthemmten „Konkurrenzstreben“ wird das Ressentiment von einem zirkulierenden Fehlen heimgesucht: Jedes Haben bedeutet ein Nicht-Haben und jeder Überfluss eine Entbehrung.
Das Ressentiment leidet somit am Diebstahl dessen, was nie besessen wurde; es laboriert an einer begehrlichen Unlust, an einer Fülle beim Anderen, die es nicht gibt und die gerade deshalb dazu führt, dass sich der eigene Mangel im Phantasma eines fremden Genießens spiegelt. Das Ressentiment verknüpft abstrakte Genusssucht mit einer allgemeinen Vergeltungssucht und erweist sich als Produkt kapitalistischer Wertschöpfung, als ökonomisches Moralprinzip mit der Neigung, den Umfang eines objektiven Geistes anzunehmen. Mit Kierkegaard gesprochen, manifestiert sich das Ressentiment dabei als die „negative Einheit der negativen Gegenseitigkeit der Individuen“.
Dieser strukturelle Zusammenhang wurde um auffällige konjunkturelle Bewegungen ergänzt. So haben historisch-statistische Untersuchungen die Annahme bestätigt, dass die Dynamik der Finanzwirtschaft seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder mit signifikanten politischen Verwerfungen verknüpft war. Man konnte nachweisen, dass insbesondere Finanzkrisen, vom Gründerkrach Ende des 19. Jahrhunderts über die 1920er Jahre bis hin zum Kollaps von 2008, zu einem Erstarken rechtsnationaler Parteien und Positionen führten. Deren Zuwachs betrug bei repräsentativen Wahlen im Durchschnitt bis zu dreißig Prozent, und in den Jahren nach 2008 ist für die meisten Industrieländer das markante Wachstum von Rechtsparteien bis hin zu Regierungsbeteiligungen dokumentiert.
Und mehr noch: Von der sogenannten Tea Party in den Vereinigten Staaten über die britische UKIP bis zu neuen Parteien in Deutschland konnte man beobachten, wie marktliberale Ideologien völkische Einfärbungen erhielten. Dies lässt noch einmal vermuten, dass das Ressentiment sich tatsächlich als stabilisierender Basisaffekt des jüngeren Kapitalismus zu behaupten vermag und um ein besonders markantes Beispiel soll es im Folgenden gehen.
Der Brexit als Exempel
Kurz nachdem Großbritannien am 23. Juni 2016 für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt hatte, konnte man einen sprunghaften Anstieg von gewissen britischen Suchanfragen bei Google verzeichnen. Die Anfragen lauteten etwa „Was ist die Europäische Union?“ oder „Was bedeutet es, die EU zu verlassen?“, und sie präsentierten damit eine bemerkenswerte Wendung des Geschehens. Denn während über Jahre hinweg ein breites Aufgebot an lautstarken Antworten zur Sache Europas geliefert wurde, ist mit der definitiven Entscheidung oder Antwort „Europa“ als Frage zurückgekehrt. Es liegt also nicht fern, in dieser eigentümlichen Verkehrung der Dinge – wo man Fragen auf Antworten bekommt – das Indiz einer tiefen Verstörung zu erkennen. So wenig Geschichte sich in Variationen ereignet, so unklar ist es offenbar geblieben, welche historische Variante sich mit dem 23. Juni 2016 tatsächlich verwirklicht hat.
So könnte man zunächst glauben, dass eine plausible Version des britischen Austritts einen direkten Weg von den neoliberalen Reformen Margret Thatchers über eine enge Verflechtung Großbritanniens mit der EU bis zum Meinungskampf im Vorfeld des Referendums erzählen muss. Denn mit der Eröffnung des europäischen Binnenmarkts, mit Freihandel und Deregulierung von Finanzgeschäften, mit der Abschaffung von Beschränkungen für die Londoner Börse ist die EU zu einem hilfreichen Passepartout für den Aufstieg des Londoner Finanzregimes geworden.
Von 1979 bis 1989 wuchs das britische Finanzwesen um mehr als 320 Prozent, der Anteil der industriellen Produktion am Bruttoinlandsprodukt dagegen schrumpfte von 30 Prozent im Jahr 1970 auf 13 Prozent im Jahr 2010. Die Explosion der Finanzmärkte ging mit einer Deindustrialisierung ganzer Landstriche einher; all das wurde begleitet von der Zerschlagung der Gewerkschaften, der Privatisierung von Bahn, Post, Wasser, Energie und Schulen, vom Abbau von Sozialleistungen, von der Senkung von Unternehmenssteuern und Steuerhöchstsätzen überhaupt. Dies hat zu einer Spreizung von Vermögen und Einkommen geführt (10 Prozent der Reichsten besitzen 45 Prozent des Vermögens; die untere Hälfte der Bevölkerung besitzt nur 9 Prozent); und während sich die Managergehälter im vergangenen Jahrzehnt verdoppelt haben, sind mehr als 20 Prozent der Bevölkerung in relative Armut geraten. In Großbritannien wie in Europa insgesamt hat man offenbar seit den 1970er Jahren ein neoliberales Projekt aufgegriffen, für welches nach Friedrich Hayek der Nationalstaat das Problem, die Liberalisierung der Märkte aber die Lösung darstellt. Wenn man hinzunimmt, dass internationale Konzerne und Großbanken einen Verbleib in der EU ersehnten, dann konnte das Votum für den Abschied als eine Entscheidung dafür erscheinen, zusammen mit der EU auch den Neoliberalismus, Austeritätspolitik, unregulierte Märkte und die Dominanz der Finanzindustrie loszuwerden.
Jedermann weiß, dass diese Version der Geschichte nicht stimmt, und die Wahlresultate selbst tragen zu einer Bildstörung bei. Das Verhältnis von Befürwortern und Gegnern des Austritts ließ sich nicht nach sozialen Klassen oder Einkommensgruppen sortieren, die Anhänger von „Leave“ schlossen Mittelstand, Multimilliardäre und sogenannte Globalisierungsverlierer gleichermaßen ein. Und das Abtasten von Gründen für das Abschiedsvotum ergab ein seltsames Gemisch: Demnach stimmten 81 Prozent gegen Multikulturalismus, 80 Prozent gegen Immigration, 78 Prozent gegen die grüne Bewegung, 74 Prozent gegen Feminismus, 71 Prozent gegen das Internet, 71 Prozent gegen sinkenden Lebensstandard, 69 Prozent gegen Globalisierung und 50 Prozent gegen den Kapitalismus.
Die Polarisierung der Finanzindustrie
Diese Unschärfe ermöglicht es, die Ausstiegsgeschichte um eine andere Version zu ergänzen. So zwangen Londoner Finanzinvestoren bereits 1992 die britische Regierung, aus dem europäischen Wechselkursmechanismus auszusteigen, und spätestens nach 2008 beginnen EU-Politikvorhaben und die Finanzinteressen des Vereinigten Königreichs zu divergieren. 2011 legte die Regierung in London ein Veto gegen geplante Finanztransaktionssteuern und gegen das Verbot von Leerverkäufen ein, sie klagte gegen die Begrenzung von Bonuszahlungen und stellte sich gegen Maßnahmen zur Regulierung von Hedgefonds, Schattenbanken und Derivaten sowie gegen die Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerflucht. Den Rückhalt dafür bietet der Londoner Finanzmarkt selbst, der 40 Prozent europäischer Finanzvermögen und mehr als 80 Prozent der Hedgefonds beherbergt und 60 Prozent der Finanztransaktionen, 78 Prozent der Währungsgeschäfte sowie 74 Prozent des Derivathandels in der EU abwickelt. Vor diesem Horizont zeichnete sich ab, dass die EU nach 2008 ein ungünstiges Milieu für die Pflege britischer Finanzmärkte geworden war. Gleiches galt für den in Großbritannien geplanten Abbau von Arbeitsrechten oder Umweltstandards.
Damit hat sich eine besondere Konfliktlinie ergeben. Während die EU über Jahrzehnte hinweg den Finanzsektor alimentierte, haben sich die daran beteiligten Kräfte allmählich entzweit. In dem Maße, wie sich europäische Bedenken nach der Krise von 2008 auf eine vorsichtige Bändigung von Finanzgeschäften richteten, hat man in London auf einen zweiten Globalisierungsschub gesetzt. Dessen Protagonisten waren dann allerdings nicht mehr die bewährten Banken- und Versicherungskonzerne, sondern eine finanzökonomische Avantgarde, bestehend aus Hedge- und Investmentfonds, Private Equity, Derivathändlern und der Fintech-Branche (also den neuen Akteuren in Bezahldiensten oder Kryptowährungen). Einerseits hatte man die großen Zeiten Thatchers noch einmal heraufbeschworen, andererseits erschien die Vollendung der glorreichen Vergangenheit möglich nur durch einen Bruch mit der bisherigen institutionellen und rechtlichen Architektur.
Der Umbau der Londoner City zu einer Offshore-Plattform, zu einem Steuerparadies oder einem „Singapur an der Themse“ war eben mit den jüngeren Restriktionen europäischer Finanzpolitik nicht mehr vereinbar. Der Austritt aus der EU musste als Chance für eine Erneuerung des Finanzmarktkapitalismus in Großbritannien erscheinen. Und es verwundert nicht, dass sich darin weniger der Konflikt zwischen sozialen Schichten als vielmehr eine Polarisierung der Finanzindustrie selbst manifestierte. Das schlug sich in der Finanzierung der entsprechenden Kampagnen nieder. Von allen aus dem Finanzsektor aufgebrachten Spenden (über 15 Mio. britische Pfund) gingen rund 65 Prozent an die Leave-Kampagne, wofür insbesondere Investment- und Hedgefonds sorgten: Mehr als 90 Prozent ihrer Spenden haben den Austritt aus der EU unterstützt. Diese Tendenz setzte sich nach dem Referendum fort, wobei die jüngste Finanzindustrie 2019 auch zwei Drittel der Spenden für den Wahlkampf des gegenwärtigen Premierministers eingesammelt hat.
Londongrad – die Attraktion für russisches Kapital
Ein aktueller Aspekt kommt hinzu. Nachdem der politische Schwung aus dem Westen am Ende der Sowjetunion die notorische Massenprivatisierung nach Russland gebracht hatte, ist der Londoner Finanzplatz zur größten Attraktion für russisches Kapital geworden. 1 Dies betraf nicht nur Oligarchengelder, die über ehemalige Kronkolonien und Briefkastenfirmen nach London kamen, sondern auch die Stützen des russischen Staatskapitalismus wie Rosneft, Sberbank und VTB-Bank, die der Londoner Börse die größten internationalen Aktienemissionen überhaupt bescherten und Mitglieder des britischen Oberhauses reihenweise auf die Posten in den entsprechenden Vorständen und Aufsichtsräten brachten. Die jüngste russische Spende ging Ende vergangenen Jahres an die britische Regierungspartei; und schon 2013 fasste der Chef der UKIP die gemeinsamen Interessen im Staatssender Russia Today mit dem folgenden hoffnungsfrohen Befund zusammen: „Das europäische Projekt liegt im Sterben.“
Während also das ältere Bankensystem auf einen Verbleib in der EU zählte, hat man in den aggressiven Filialen einer aufstrebenden Finanzindustrie auf den Bruch mit solchen Fesseln gesetzt. Die Rückkehr zum Nationalstaat war mit der Hoffnung auf eine nächste Runde finanzökonomischer Globalisierung verknüpft. Und welche wirtschaftlichen Verwerfungen der Austritt des Vereinigten Königreichs noch mit sich bringen wird – er hat sich für dessen Parteigänger auf den Finanzmärkten bereits bewährt: Schon 2016 wurden weitere Anteile des nationalen Gesundheitsdienstes an private Investoren verteilt, kurz nach dem Referendum zogen die Gewinne von Investmentgesellschaften zwischen drei und fünfzehn Prozent an, zur selben Zeit stiegen die Investitionen in die Branche der Finanztechnologie um 37 Prozent und machten London zum globalen Zentrum dieses Geschäfts; und die über acht Milliarden Pfund, mit denen Hedgefonds auf Verluste der britischen Währung nach dem Referendum spekulierten, waren offenbar gut investiert. Vor diesem Hintergrund muss man das Referendum selbst als Ausdruck einer Krise liberalen Regierens verstehen, in welcher der wirtschaftliche Niedergang nach 2008, widersprüchliche Neigungen der Finanzindustrie, eine globalisierungskritische Bevölkerung und der ambivalente Status der EU aufeinander stießen. Und als man sich angesichts solcher Verwerfungen im engsten Zirkel der Leave-Kampagne dazu entschloss, mit Blick auf die EU nicht mehr über freie Märkte oder Deregulierung, sondern nur noch von Ausländern und Immigrationssorgen zu reden, fand man sich in einem gut ausgebauten Resonanzraum wieder.
Die britische Presse in Kampfstellung
Spätestens seit 2010 hat die notorische britische Presse – von der John Le Carré einmal meinte, sie sei in den letzten Jahrzehnten schlicht zum Teufel gegangen – nicht nur eine politische Groteske aufgeführt, in der europäische Institutionen etwa zum Verbot von englischen Teekesseln, von Erbsenpüree und Salatgurken, von Kilts und Curries, von britischer Armee und britischen WCs aufgerufen hätten. Vielmehr haben diverse Übersichten gezeigt, auf welche Weise das Thema der Immigration selbst dominant geworden war. 60 Prozent aller Titelseiten von „Daily Mail“, „Daily Express“ oder „Daily Telegraph“ wurden Flüchtlingen und EU-Arbeitsmigranten gewidmet, die in „Wellen“ und „Tsunamis“, in „Schwärmen“, „Horden“ oder in Gestalt von „Kakerlaken“ die britische Insel erreichen. Und die Art und Weise, mit der die Leave-Kampagne dann Migranten und Xenophobie zu „Schlüsselthemen“ ausgerufen hat (je abgeschmackter, desto besser, hat einer der Hauptsponsoren gefordert), gibt dann einige Hinweise auf ein Projekt, in dem sich gerade das Ressentiment als eine besondere, nämlich metamorphotische Kraft für politische Ziele und Abstimmungsverhalten erwies.
So hat man im Wahlkampf 2016 erstmals die Instrumente von Big Data und Datenanalyse zur differenzierten Adressierung verschiedener Zielgruppen in sozialen Medien genutzt. Dabei ging es nicht nur darum, Nichtwähler zu gewinnen und sogenannte Mainstream-Medien zu umgehen. Es handelte sich vielmehr um eine politische Mobilisierung, die sich – unter Mithilfe von über 400 russischen Twitter-Konten – mit Direktkommunikation an Mittelschichten, Lohnabhängige und Globalisierungsverlierer gleichermaßen wendete, um eine materielle Ohnmacht gegenüber vermeintlichen „Eliten“ in plebiszitäre Ermächtigungsangebote zu übersetzen. Bereicherungspolitik hat sich mit der List ressentimentaler Vernunft verbündet. Dies geschah einerseits durch eine negative Kollektivierung, mit der sich das Nationale aus einem Nein gegen europäische Bürokraten, gegen ein „viertes Reich“, gegen Flüchtlinge und Immigranten hergeleitet hat. Abstrakte Sachverhalte wie Vermögensverteilung, globaler Kapitalverkehr, britische Austeritätspolitik und wirtschaftliche Abhängigkeiten wurden in griffige Feindbilder transformiert, die dann die Ursache für höhere Mieten, schlechte Jobs oder die Erosion des Gesundheitswesens verkörpern konnten. Was immer der eigene Mangel oder Verlust sein mag, er veranschaulicht sich am besten im eingebildeten Appetit gleich nebenan.
Andererseits folgt die Hilflosigkeit, mit der eine Mehrheit von Leuten den ökonomischen Apparaturen gegenübersteht, einer Bewegung, wie sie Freud in „Die Zukunft einer Illusion“ beschrieben hat: wo das Recht, „die Außenstehenden zu verachten“, für jene „Beeinträchtigung“ entschädigt, die man selbst erfährt. Diese Ersetzung von Aktion durch Reaktion durch einen Affekt illustriert Freud mit einem Beispiel: „Man ist zwar ein elender, von Schulden und Kriegsdiensten geplagter Plebejer, aber dafür ist man Römer, hat seinen Anteil an der Aufgabe, andere Nationen zu beherrschen und ihnen Gesetze vorzuschreiben.“ Das Ressentiment steuert damit eine feindselige Vergemeinschaftung, in der das Reich, das Empire oder die Anrufung nationaler Souveränität („Let’s take back control“) an den Platz einer Interessenvertretung für diejenigen rückt, deren Interessen eben nicht vertreten werden. Die List des Ressentiments nimmt den Weg einer Regression, die aus der krisenbedingten Kritik am internationalen Kapitalismus eine Kritik an globalen Abhängigkeiten, aus dieser aber die xenophobe Schablone gewinnt – die Verhältnisse selbst bleiben unbehelligt.
Ressentimentbereitschaft und autoritärer Liberalismus
Verschiedene Schauplätze haben im vergangenen Jahrzehnt nicht nur eine enge Verflechtung von sozialen Medien und politischen Kampagnen, sondern auch positive Rückkopplungen zwischen ressentimentaler Politik und den Konjunkturen auf den Finanzmärkten vorgeführt – neben dem britischen Referendum etwa die Präsidentschaftswahlen in Indien (2014), den USA (2016) oder Brasilien (2018). Das Wechselverhältnis zwischen Nationalismus und Kapital, das sich bereits im Antisemitismus der Gründerzeit abzeichnete, hat hier eine besondere Wendung genommen
Auf der einen Seite lässt sich darin das Format eines autoritären Liberalismus erkennen, in dem sich die Enthemmung des Kapitalverkehrs mit dem Abbau rechtsstaatlicher Verbindlichkeiten verknüpft. Die Vertreter der jüngsten Finanzindustrie benötigen demokratische Rahmenbedingungen nicht mehr und widersprechen der alten Marxschen Annahme, dass die Republik eine ideale Fassung bürgerlicher Herrschaft sei.
Auf der anderen Seite kann man daran erinnern, dass im Umkreis einer kritischen Theorie – etwa bei Wilhelm Reich – die Verflechtung von antikapitalistischen Reflexen mit den Wirtschaftsinteressen des Kapitals als Auftragslage des Faschismus begriffen wurde. Und es besteht wenig Zweifel daran, dass der latente Fortbestand völkischer und xenophober Neigungen seit dem 19. Jahrhundert mit den Konzentrationsbewegungen des Kapitals verknüpft blieb. Dabei verkörpert der heutige Zusammenhang zwischen globaler Finanzindustrie und nationalen Ressentiments weder eine Paradoxie noch lässt er sich allein durch ein zweistufiges Erklärungsmodell fassen, in dem die Krisen entfesselter Marktkräfte dann mit anti-liberalen Gegenbewegungen beantwortet würden. Das Beispiel des britischen Referendums hat vielmehr einen politischen Entscheidungsprozess vorgeführt, in dem die Investitionen in den Mechanismus des Ressentiments mit der Strategie finanzökonomischer Globalisierung harmonieren; die zum Ressentiment gewandelte Kritik wird als Spieleinsatz für den Systemerhalt reklamiert.
Ressentimentbereitschaft wird also nicht nur durch die Erosion von Solidarmilieus und durch atomisierte Wettbewerbsgesellschaften hervorgebracht. Mit der Verwandlung kritischer Reaktionen in subjektive Kümmernisse funktioniert es auch als Produktivkraft für die Stabilisierung kapitalistischer Ökonomie. Darum kann das Ressentiment – mit seiner transformativen Macht – als eine Antwort auf die Frage gelten, wie sich das Handeln gegen eigene Interessen erklären lässt, oder: warum die Verhaltensreserve von Globalisierungsverlierern sich für ebendiese Globalisierung aktivieren ließ.
Im Ressentiment wird die Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen mit plebiszitärer Ermächtigung, mit der Stärkung von Subjektgefühlen und den Gratifikationen eines feindseligen Kollektivs kompensiert. Die Bereicherungspolitik hatte das Amalgam der Vorkriegszeit produziert: Nationalismus, Rechtsfeindschaft, Desinformation, die Zerschlagung internationaler Verträge und Organisationen. Und es scheint, als hätte die Dezivilisierung längst angefangen, bevor der Krieg begann.
Der Aufsatz ist die leicht veränderte Fassung einer Dankesrede, die Joseph Vogl anlässlich der Verleihung des Günther-Anders-Preises für kritisches Denken am 8. Mai 2022 in der Staatsbibliothek Berlin gehalten hat.
1. Vgl. dazu Michael R. Krätke, Putins Netz: Russische Geldwäsche in Londongrad, in: „Blätter“, 6/2022, S. 9-12. – D. Red.
BRON
Blätter – 7/2022, S. 113-120
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ARBEID EN LOON – WINST EN KAPITAAL
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EEN VREEDZAME ORDE
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IS DE “BRAVE NEW WORLD” ONONTKOOMBAAR?
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DE WEELDE EN DE ELLENDE VAN EEN GRENZENLOOS KAPITALISME
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