Antisemitisme en postkolonialisme

Armenian women painting ceramics at the workshop of David Ohanessian, Jerusalem, Palestine, 1920s



PERFIDES ABLENKUNGSMANÖVER

Eine differenzierte Antisemitismusdebatte ist in Deutschland offenbar unerwünscht: Linke, nicht weiße oder muslimische Positionen werden systematisch diffamiert.

ESRA ÖZYÜREK

 

Der Kolonialismusforscher Achille Mbembe (links) wird als Antisemit verunglimpft. 2018 wurde der Direktor des Jüdischen Museums in Berlin (rechts) scharf kritisiert, weil er muslimisch-palästinensische Perspektiven in einer Ausstellung zuließ. 2019 musste er seinen Posten aufgeben.
© Cyrill Folliot/​AFP; De Simone Lorenzo/​AGF/​Universal Images Group/​Getty Images

Die Kontroverse um die nur durch Corona verhinderte Ausladung Achille Mbembes von der Ruhrtriennale hat in den deutschen Medien heftige Debatten ausgelöst – über PostkolonialismusAntisemitismus, die Rolle des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung und den BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages. Hinter diesen Debatten erscheint aber nach unserer Ansicht eine noch grundlegendere Frage: wer in Deutschland überhaupt als berechtigt anerkannt wird, öffentlich über das koloniale, rassistische und antisemitische Erbe Deutschlands zu sprechen.
 
Die Verunglimpfung von Mbembe im Zusammenhang mit Antisemitismus und die Aberkennung seiner Kompetenz, sich zu diesen Themen in Deutschland öffentlich zu äußern, waren kein Einzelfall. Sie stehen in einer langen Reihe anderer Fälle, in denen Nichtdeutsche und Deutsche mit arabischem, türkischem, afrikanischem oder jüdischem Hintergrund, darunter eine erhebliche Zahl an Frauen, des Antisemitismus beschuldigt oder in die Nähe von Antisemitismus gerückt wurden.
 
Viele Personen hatten sich zuletzt verdächtig gemacht, die Singularität des Holocaust nicht anzuerkennen, wenn sie ihn mit anderen Genoziden verglichen, oder Antisemitismus zu verharmlosen, wenn sie ihn nicht als grundsätzlich von anderen Formen des Rassismus getrennt betrachteten. Es folgten Forderungen nach Absetzung der Beschuldigten von ihren öffentlichen Ämtern, nach Lehr- und Auftrittsbeschränkungen, nach Ausschluss von öffentlicher Förderung.
 
Bereits 2009 geriet die afrodeutsche Direktorin der Werkstatt der Kulturen, Philippa Ebéné, unter Beschuss, weil sie angeblich mit antisemitischen Arabern solidarisch gewesen sei; sie hatte zum 70. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges eine würdigende Gedenkveranstaltung für afrikanische, afro-diasporische, arabische und asiatische Kolonialsoldaten sowie Schwarze und indigene GIs geplant.
 
Im vergangenen Jahr wurde der Direktor des Jüdischen Museums Berlin, Peter Schäfer, unter massivem Druck zur Aufgabe seiner Stelle gedrängt. Die FAZ nannte Schäfers Abberufung den “Endpunkt einer jahrelangen Entwicklung, die aus dem Jüdischen Museum Berlin ein Forum für Israelkritiker und BDS-Sympathisanten mit Querverbindungen zum politischen Islam gemacht hatte”. Auch die Leiterin der Akademieprogramme des Museums, Yasemin Shooman, verließ das Haus*. Shooman hatte, gemäß dem Auftrag des Museums, das auch ein Ort der Begegnung sein sollte, interreligiösen und interkulturellen Gesprächen ein Forum gegeben und die Diskriminierung von Muslimen und anderen Minderheiten thematisiert. Schäfer war 2018 wegen einer Ausstellung über Jerusalem, die die muslimisch-palästinensische Perspektive miteinbezog, vom israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, von der US-amerikanischen Botschaft und dem Zentralrat der Juden in Deutschland mit scharfer Kritik überzogen worden. Anlass seines Rücktritts war ein Tweet der Pressestelle des Museums, die einen taz-Artikel über die internationale Kritik an der BDS-Resolution des Deutschen Bundestages geteilt hatte.
 
Diese prominenten Fälle stehen für viele, bisher ungezählte andere, die sich oft ohne öffentliche “Debatte” und Aufmerksamkeit in den vergangenen Jahren mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert, in ihrer Reputation beschädigt und zum Schweigen gebracht sahen.
 
Angesichts dieser Fälle plädieren wir dafür, den Ausweitungen des Antisemitismusvorwurfs entschiedener entgegenzutreten. Wir haben den Eindruck, dass mit der Verlagerung des Vorwurfs auf linke und linksliberale und Minderheiten-Positionen von der tatsächlich wichtigen und notwendigen Diskussion über Antisemitismus und Rassismus abgelenkt werden soll, in einer Zeit, in der beide in Deutschland und weltweit immer virulenter werden. In Deutschland ist das Gedenken an den Holocaust inzwischen weitgehend ritualisiert.
 
Der Soziologe Y. Michal Bodemann hat schon 1990 die Gedenkpraxis als eine “ideologische Arbeit” beschrieben, die für die meisten Deutschen keine humanitäre Verpflichtung beinhalte, sondern als Beleg dafür gebraucht werde, dass Deutschland wieder den Status einer zivilisierten Nation erreicht habe. Die Mehrheitsgesellschaft, die in Deutschland immer noch weiß, männlich und christlich geprägt ist, beansprucht mit ihren eigenen Deutungsbedürfnissen die Interpretationshoheit darüber, was Antisemitismus sein soll, und geht dafür mit überwiegend konservativen jüdischen Interessenvertreter*innen Allianzen ein. Anstatt weiter Redebeiträge oder Redner*innen durch Antisemitismusvorwürfe zu delegitimieren, braucht es eine offene Diskussion darüber, worüber wir eigentlich sprechen, wenn wir über Antisemitismus im Deutschland der Gegenwart sprechen, und wer, mit welchen Erfahrungen, an dieser Unterhaltung teilnehmen darf.

 

Das Denken einer pluralistischen Gesellschaft hat Feinde

Tatsächlich ging es gerade in der Diskussion um die Einladung respektive Ausladung von Achille Mbembe nie um die Zukunft der Juden in Deutschland, um den Staat Israel oder den Antisemitismus. Es ging um etwas Umfassenderes und Grundlegenderes: das Denken in Möglichkeiten eines gemeinsamen und gleichberechtigten Lebens in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft, während gleichzeitig kritische Stimmen, vor allem Stimmen aus Minderheiten, den Ausschluss von der öffentlichen Diskussion erfahren.
 
Das Denken einer pluralistischen Gesellschaft hat Feinde, insbesondere im rechten Spektrum, wo Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus lautstark und öffentlichkeitswirksam inszeniert werden, aber auch in der Mitte der Gesellschaft und bei Linken, wo rassistische Positionen ebenfalls ungenierter artikuliert werden. Das Erstarken rechter und rechtsextremer Parteien und Organisationen, die zunehmenden antisemitischen und rassistischen Angriffe und die Diskreditierung und Diffamierung von Minderheitenerfahrungen sowie die Unterdrückung des Denkens einer gemeinsamen Welt hängen unmittelbar miteinander zusammen.
 
Wir gehen davon aus, dass in Deutschland der Vorwurf des Antisemitismus zu einem Instrument geworden ist, um linke und marginalisierte Positionen, gerade wenn sie von People of Color, Juden, Afrikanern, Muslimen, Nichtdeutschen und gerade auch Frauen vertreten werden, zum Schweigen zu bringen. Dies geschieht, indem die Definition von Antisemitismus zugleich eingeengt wie auch ausgeweitet wird. So wird der historische und aktuelle Rassismus gegen andere Minderheiten nicht mehr oder nur noch viel schwieriger sagbar.

Der Vorwurf des Antisemitismus wird auf rassifizierte und marginalisierte Gruppen ausgedehnt und dazu benutzt, sie aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. Gleichzeitig hilft er, den Diskurs über die heutigen Formen des Rassismus einzuschränken. Die Reduzierung auf die Frage, ob Kritik an Israel legitim oder illegitim ist, verhindert die Diskussion über das Verhalten der Akteur*innen, die tatsächlich Rassismus und Hass verbreiten. Und sie erlaubt, auch rückblickend die deutsche Verantwortung für die Verbrechen sowohl der kolonialen als auch der nationalsozialistischen Vergangenheit kleinzureden und ihre Kontinuitäten bis heute zu leugnen.
 
Die Instrumentalisierung und Rassifizierung des Antisemitismusvorwurfs erfolgt durch Markierungen von zwei Seiten: Erst wird der Antisemitismus als außerhalb des deutschen Staatswesens stehend markiert und es wird der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland und des jüdischen Staates Israel zur deutschen Staatsräson erklärt, während Jüdinnen und Juden weiterhin aus den ethnisch-kulturellen Konstruktionen des Staatswesens ausgeschlossen bleiben.

 

Antimuslimisch-antisemitische Klischees

Sodann werden Muslime als Gefahr für die jüdische Bevölkerung und für Israels Existenzrecht gebrandmarkt wegen vermeintlicher antisemitischer Einstellungen, die sie aus ihren Heimatländern “importiert” hätten, auch wenn sie schon seit Generationen in Deutschland leben. Neu ist, dass mit Mbembe nun auch ein Schwarzer Philosoph, Historiker aus Kamerun, einer der bekanntesten Vertreter des Postkolonialismus, zu dieser besonders bedrohlichen Gruppe gezählt wird. Das Vertrauen, das Mbembe noch 2011 der deutschen Außenkulturpolitik und der Arbeit des Goethe-Instituts im Ausland ausgesprochen hatte, ist nun wohl verspielt.
 
Mit der Aufnahme einer großen Zahl von Geflüchteten und Asylsuchenden muslimischer Herkunft in Deutschland seit dem Sommer 2015 hat sich die öffentliche Sorge um die Sicherheit der jüdischen Bevölkerung vor muslimischen Angreifern intensiviert. Doch tatsächlich ist die Zahl der antisemitischen Übergriffe auf jüdische Orte und Personen laut der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in Berlin erst im Jahr 2019 signifikant gestiegen und die weit überwiegende Mehrheit der Täter war den Zählungen des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus zufolge nicht muslimisch, sondern rechts und rechtsradikal. Tatsächlich haben sich in den letzten zehn Jahren spannende neue Kooperationsprojekte zwischen deutsch-jüdischen und deutsch-muslimischen Gemeinden entwickelt.

 

Widerstand wächst

Die sozialdemokratische Parteipolitikerin Sawsan Chebli wurde zu einer führenden Kraft im Kampf gegen den Antisemitismus und arbeitet eng mit verschiedenen jüdischen Institutionen zusammen. Zahlreiche jüdisch-muslimische Gesprächskreise, Dialogforen, Projekte, wie zum Beispiel die Salaam-Schalom-Initiative in Berlin, widmen sich sowohl der Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus als auch dem interreligiösen und interkulturellen Dialog. Die intensivere Auseinandersetzung mit Migration, Antisemitismus und Holocaustgedenken hat spezielle Bildungsangebote für Menschen mit muslimischem Hintergrund entstehen lassen. Doch auch wenn diese Zusammenschlüsse dem Holocaustgedenken und dem Kampf gegen den Antisemitismus verpflichtet sind, sind sie im Dialog nicht mehr willkommen, sobald sie eine differenziertere Sicht vertreten und die Erfahrungen von Migrant*innen, People of Color oder Muslimen sichtbar machen.
 
Diese Vorwürfe und Ausschlüsse haben sich seit Mai 2019 mit der Bundestagsresolution gegen die gewaltfreie Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionskampagne (BDS) noch einmal wesentlich verschärft. Wir enthalten uns in diesem Rahmen einer Stellungnahme zum BDS, dessen Einfluss in Deutschland schon vor der Resolution äußerst gering war. Wir sehen nur, dass die Resolution des Bundestages in einer auch unter rechtlichen Gesichtspunkten fragwürdigen Weise dazu benutzt wird, die Ausschlussprozesse weiterzutreiben, linke und postkoloniale Intellektuelle öffentlich zu maßregeln und vom offiziellen Narrativ abweichende Darstellungen der Geschichte Israels zu unterdrücken.
 
Doch der Widerstand gegen diese Entwicklung wächst ebenfalls. In der aktuellen Mbembe-Debatte haben sich zahlreiche jüdische und nicht jüdische Intellektuelle, in Deutschland und außerhalb Deutschlands, zu Wort gemeldet und ihre Solidarität bekundet. Die Frage, wie eine gleichberechtigte Teilhabe an der demokratischen Öffentlichkeit in Deutschland und anderswo ausgeweitet und vertieft werden könnte, lässt sich nicht mehr vom Tisch wischen. Wenn wir den rassistisch motivierten Hass, der sich aktuell gegen jüdische und muslimische Minderheiten, gegen Roma, Sinti, Migrant*innen und People of Color Bahn bricht, in allen seinen Spielarten in den Blick nehmen wollen, muss sich die Diskussion für marginalisierte Gruppen und für Frauen aus allen Gruppen öffnen. Nicht als Opfer, sondern als gleichberechtigte Diskussionsteilnehmer*innen.

 

Tabuisierung bewirkt ihr Gegenteil

Wenn dies nicht gelingt, wird das Bestreben, den Antisemitismus zu bekämpfen, das demokratische Gemeinwesen nicht schützen, sondern im Gegenteil weiter beschädigen. Wie der Philosoph Omri Boehm geltend gemacht hat, wird ein Beharren auf den Tabus der deutschen Gesellschaft, über Israel als jüdischen Staat zu diskutieren, den Antisemitismus auf allen Seiten weiter wachsen lassen. Wir müssen die Definitionen von Antisemitismus, die nur auf der Unterteilung in Opfer und Täter beruhen, überwinden.
 
Die Einengungen, Ausweitungen und Projektionen dieser Definitionen und vor allem die staatlichen Eingriffe in die Debatte unterdrücken wichtige Diskussionen über Zivilgesellschaft und Erinnerungskultur, wie sie unter anderen von Aleida Assmann gefordert und auch schon geführt werden. Der Holocaust- und Erinnerungsforscher Michael Rothberg hat in seinem Buch The Implicated Subject: Beyond Victims and Perpetrators gezeigt, dass wir alle in zahlreiche Formen historischer Gewalt und zeitgenössischer Ungleichheit eingebunden sind.
 
Tatsächlich würde das Verständnis, dass der gegenwärtige Antisemitismus und Rassismus verwandte und miteinander verbundene Phänomene sind, die demokratischen Prinzipien und den Pluralismus in Deutschland stärken. Ein solches Verständnis schließt das Wissen um die Besonderheiten des jüdischen Lebens in Deutschland und um die besonderen Umstände der Souveränität Israels und der israelischen Politik nicht aus, sondern ein.

 
Übersetzung aus dem Englischen von Adina Stern.

*Korrekturhinweis: In einer früheren Version hieß es, sowohl Peter Schäfer als auch Yasemin Shooman seien “unter massivem Druck zur Aufgabe ihrer Stellen (am Jüdischen Museum Berlin, die Redaktion) gedrängt” worden. Yasemin Shooman hat ZEIT ONLINE dazu kontaktiert und verweist auf eine Stellungnahme, die sie als Reaktion auf einen vorangegangenen Bericht der FAZ verfasst hat: Sie sei von ihrer Position am Jüdischen Museum Berlin “nicht im Zuge der Tweet-Affäre und des Rücktritts von Peter Schäfer als Museumsdirektor zurückgetreten”, sondern sei vielmehr “bereits vorher vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung abgeworben” worden. Daher haben wir die Stelle im Text entsprechend geändert. Des Weiteren haben wir die Umstände, unter denen Philippa Ebéné 2009 des Antisemitismus beschuldigt wurde, auf ihren Wunsch hin konkretisiert.

 


AUTEURS

ESRA ÖZYÜREK

ist Professorin für Europäische Anthropologie und hat den Lehrstuhl für zeitgenössische türkische Studien am Europäischen Institut der London School of Economics inne. 2018 erschien von ihr Deutsche Muslime – muslimische Deutsche: Begegnungen mit Konvertiten zum Islam im Springer Wissenschaftsverlag.

IRIT DEKEL

ist eine israelische Soziologin und Professorin für Germanistik und Jüdische Studien an der Indiana University in Bloomington/USA. Sie hat 2013 ein Buch über Mediation at the Holocaust Memorial in Berlin bei Palgrave veröffentlicht.


BRON
Die Zeit – 10 juli 2020


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Uitgelichte foto: bron

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