DAS EUROPA VON HEUTE UND DIE WIRKLICHKEIT VON MORGEN

Y. Caradec: Tour Eiffel bleue – Présidence française du Conseil de l’Union Européenne




Niet kunnen luisteren, niet willen lezen, heeft het leven dan nog zin? Of wordt leven verwisseld met aanpassen aan hetgeen ons door de “vrije markt” voorgespeeld en opgedrongen wordt? Is dat het geval dan is iedereen die nog zelfstandig probeert te denken, zijn fantasie laat werken, zich een voorstelling probeert te maken hoe het anders zou kunnen en moeten, een dwaas, een gek die een gevaar is voor de bestaande orde en opgesloten dient te worden. Mensen bijvoorbeeld die stellen dat onze maatschappelijke orde op geweld berust en steeds verder geweld uitlokt, geweld vervolgens als oplossing aandraagt van de door hen geschapen problemen en gevaren. Vanuit een dergelijke zienswijze kan alleen oorlog en onderdrukking een oplossing bieden en dat geweld dient geprovoceerd en opgelegd te worden. Een wetmatigheid leert de geschiedenis. Elke vorm van utopisch denken vervluchtigd dan als sneeuw voor de zon en de geweldsspiraal doet de rest.
 
Ga lezen, dat helpt. Hieronder een introductie. En luister…
 

 

Franz Schubert – Strijkkwartet in C (D. 956) – Alban Berg Quartett met Heinrich Schiff – 1982

 

 

ZUR VERTEIDIGUNG DER UTOPIE

Oskar Negt

 
Mit Verblüffung muss man heute feststellen, wie viel intellektuelle Energie auf Europadiskurse gelenkt wird, die selbst in ihrer radikalsten und kritischsten Position vollkommen dem Bannkreis des Geldes und der politischen Institutionen verhaftet bleiben. Manchmal könnte man auf den Gedanken kommen, dass die öffentlich definierte Realitätsmacht der vorherrschenden Wirklichkeit nicht nur die Gedanken erfasst, sondern auch die Denkstrukturen. Das ist umso erstaunlicher, als gerade in den vergangenen Jahren weltweite Protestbewegungen hörbar und sichtbar gemacht haben, dass die auf unterschlagenen Wirklichkeiten und von oben inszenierten demokratischen Legitimationen beruhenden Herrschaftssysteme brüchig sind und zu Fall gebracht werden könnten.
 
Was in Europa und den USA einen neuen kollektiven Lernprozess einleiten könnte, ist die massenhafte Erfahrung, dass es die Realpolitiker in allen Machtzentren der Gesellschaft, den Banken ebenso wie den Regierungen, gewesen sind, die eine hochentwickelte Gesellschaftsordnung an den Rand der Katastrophe getrieben haben – nicht die Utopisten, nicht die mit dem Vorwurf der Realitätsferne geschlagenen Konstrukteure einer besseren Welt.
 
Im Verhältnis von Utopie und Wirklichkeit vollzieht sich weltweit eine entscheidende Veränderung: Die Realitätsmacht der Utopien, in der 68er-Bewegung verbal und mit viel Leidenschaft eingeklagt, scheint immer stärker besonders Jugendliche zu motivieren, sich gegen Unterdrückung, Ausbeutung und politische Manipulation zu wehren. Die Erosion der offiziellen politischen Machtinstrumente nimmt den Tatsachen-Menschen, die unentwegt die Alternativlosigkeit ihres Wirklichkeitssinnes behaupten, alle Überzeugungskraft. Das eröffnet dem Möglichkeitssinn neue Perspektiven und ermutigt die Menschen, sich zu empören und Forderungen zu stellen, die noch vor einem Jahrzehnt als verrückt gegolten hätten.
 
Es ist also davor zu warnen, die gesellschaftliche Situation, in der wir uns befinden, auf die rein ökonomische Dimension zu reduzieren. Gemessen am gewaltigen Ausmaß der Krise und an den Anforderungen, welche die zu spezifischen Handlungsfeldern umgewandelten Krisenherde an uns stellen, sind die begrifflichen und praktischen Hilfsmittel unglaublich mager und phantasielos.
 
Dass sich mit den immer weiter und aufwendiger gespannten Rettungsschirmen für Banken Nennenswertes in den Arbeits- und Lebensprozessen der Menschen verändern könnte, um ein einigermaßen funktionierendes demokratisches Gemeinwesen zu gewährleisten, ist zumindest höchst zweifelhaft. Das Bedrückende an der gegenwärtigen geistigen Situation der Zeit liegt jedoch darin, dass alle Auswege verbarrikadiert erscheinen. Wer Krisenlösungen außerhalb des Geldsektors ins Auge fasst, kommt leicht in den Verdacht, an den eigentlichen Gesellschaftsproblemen vorbei zu argumentieren. Speziell der Utopie wird nach wie vor schlicht jeder Wirklichkeitsgehalt abgesprochen. Georg Quabbe, ein die deutsche Entwicklung mit wachsendem Misstrauen verfolgender konservativer Intellektueller der Weimarer Zeit, spottete über diese Haltung bereits 1933: „Der Gegenpol der Utopie heißt Realpolitik. Sie, die uns umgibt, hat den beträchtlichen Vorzug vor der Utopie, dass sie in der Tat existiert. Aber es ist auch ihr einziger. Die vielen Utopien […] haben den ungeheuren Fehler, dass sie nie ins Leben getreten sind. Aber es ist auch ihr einziger Fehler.“ 1
 
Die damals wie heute herrschende Verzagtheit gegenüber dem Utopischen verweist nachdrücklich auf das Problem der Realitätsdefinition. Denn was ist überhaupt Wirklichkeit? Sind etwa Mauern und Stacheldraht, die um ein Volk gezogen sind, härtere Materie als die Utopie der Freizügigkeit und der freien Lebensgestaltung? Wie viele Schutzwälle, wie viele Mauern und betonierte Sicherheitseinrichtungen hat es nicht in der Geschichte gegeben, die am Ende nur noch Schrott hinterließen und nichts von dem bewirkten, wofür sie ursprünglich gedacht waren? In diesem Sinne begreift Jürgen Habermas die Menschenrechte völlig zu Recht als „realistische Utopie“. 2
 
Kurzum: Nicht die Utopien sind heute unser Problem, sondern die von ihnen gereinigten Wirklichkeitsfragmente, auf die jeder nüchterne Betrachter der Verhältnisse unser Denken eilfertig zu verpflichten geneigt ist.

 

Die Wirklichkeit, die sein soll – von der Eschatologie zur Utopie

Utopien sind Phantasiebilder, die sich auf die Umgestaltung der diesseitigen Welt beziehen. Sie verweisen darauf, was sein soll. Insofern sind es immer Vorgriffe, Produkte überschreitenden Denkens, aber doch nicht für ein Jenseitiges gedacht. Es sind Gesellschaftsbilder, die von dem besten Staat und der besten Lebensweise der Menschen, ihren verbesserungswürdigen Einrichtungen und Gewohnheiten berichten. In einem wesentlichen Punkt unterscheiden sie sich von Mythen, Märchen, Erzählungen: Sie sind mit Willen und Bewusstsein ausgestattet, die Misere des Diesseits zu wenden.
 
Die in der Aufklärung wirksame Säkularisierung verkürzt die ursprünglich religiösen Entwürfe vom guten Leben, mindert durch deren eher begrifflichen Zuschnitt sogar die Anziehungskraft der Bilder, stattet sie aber gleichzeitig mit reichhaltigerem Realitätsrohstoff aus. Von der das Gegebene überschreitenden Vorstellungswelt der Menschen geht so im Grunde nichts wirklich verloren. Christliche Eschatologie – als die Lehre von den letzten Dingen: vom Ende der Welt, von der Auferstehung der Toten, dem Jüngsten Gericht, dem Reich Gottes – zielt auf die Vollendung der Schöpfung. Utopie ist dagegen die bewusste Entfaltung der im Zusammenleben der Menschen ruhenden Möglichkeiten einer „rechten“ Ordnung. So versteht Martin Buber den Unterschied. Und er fügt hinzu, dass die Vollendung der Dinge und der Zeiten im christlichen Verständnis nur durch Hilfe von oben kommen könne. Utopien dagegen zehren von der innerweltlichen Kraft der Menschen: „Was als Begriff unmöglich erschiene, das erregt als Bild die Macht des Glaubens, bestimmt Vorsatz und Plan. Das tut es, weil es mit Kräften in den Tiefen der Wirklichkeit im Bunde ist. Eschatologie, soweit sie prophetisch ist, Utopie, soweit sie philosophisch ist, haben realistischen Charakter.“ 3 Die so philosophisch gefassten Utopien leben von den ausgegrenzten und unterdrückten Wirklichkeitsträumen.
 
Werden Utopien dagegen der Realität lediglich abstrakt gegenübergestellt, als Gedankensysteme mit entschiedenem Sollensanspruch, dann berauben sie sich ihrer Veränderungsmittel, die nur aus der bestehenden Wirklichkeit gewonnen werden können. Speziell der junge Marx hatte noch eine Ahnung von dieser engen Bindung zwischen Utopie und Wirklichkeit. In ihrem Spannungsfeld besteht die produktive Tätigkeit seiner Kritik gerade darin, jenen Prinzipien der Wirklichkeit auf die Spur zu kommen, die mit eigenständiger Kraft auf deren Veränderung hinarbeiten. So sind die bekannten Thesen in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie zu verstehen: „Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen.“ 4
 
Was nun immer das Drängende im Gedanken sein mag, ob es das Gefühl zwingender Gedankenschärfe ist oder der Massenwille, der zum Ausdruck drängt – nie wird jedoch die Realitätstüchtigkeit des Gedankens allein darauf gegründet sein, dass die Zeit ein Reifestadium erreicht hat, in dem gleichsam die Gedankenfrüchte problemlos gepflückt werden können. Unter solchen Bedingungen könnte man in der Tat der Auffassung sein, die Victor Hugo so formuliert: Utopie ist die Wahrheit von morgen. Wären Utopien dagegen völlig realitätslose Gebilde, dann würden wir unter keinen Umständen imstande sein, „versteinerte Verhältnisse dadurch zum Tanzen zu zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt!“ 5
 
Sich der Kräfte bedienen zu können, die in der Wirklichkeit arbeiten, aber mit den bestehenden Verhältnissen in Konflikt und über sie hinaus zu streben bemüht sind, das ist die Aufgabe des kritischen Gesellschaftstheoretikers. Das aber setzt überprüfbares Wissen, jedenfalls eine hohe Reflexionsstufe, voraus. Marx spricht hier unbefangen noch von den Träumen der Menschheit; Aufklärung in diesem Sinne hat Selbstreflexion zur treibenden Kraft, nämlich der Analyse von Verhältnissen und Träumen: „Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, dass es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, dass die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewusstsein ihre alte Arbeit zustande bringt.“ 6  Fortschritt ist also Bewusstseinsarbeit an Problemen der Vergangenheit, die unbearbeitet liegen geblieben sind oder ausgegrenzt wurden aus dem gängigen Erkenntnisinteresse.

 

Die Frage nach der wirklichen Wirklichkeit

Die darin enthaltene zentrale Frage nach der wirklichen Wirklichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Philosophie. Schon die Vorsokratiker sind damit beschäftigt, indem sie ihre Reflexionskraft auf die letzten Gründe, den Ursprung alles Seins, richten. Der erste Denker in diesem Zusammenhang ist Platon, der die Ideen in den Stand unveränderlichen Seins hebt, dessen Wahrheitsgehalte nur durch mehr oder minder gelingende Teilhabe (Metexis) dem Einzelnen in der polis vermittelbar sind.
 
Seit Plato die Welt der Ideen zur eigentlichen Wirklichkeit aufgewertet hat, ist philosophisches Denken unbeirrt damit beschäftigt gewesen, das Beziehungsgeflecht zwischen Allgemeinem und Besonderem als die eigentliche Triebkraft der Reflexion kenntlich zu machen. Immer geht es dabei um die Bestimmung dessen, was die eigentliche Wirklichkeit ausmacht. Zeitweilig konnte die Behauptung, den Universalien komme kein Realitätsgehalt zu, für den Autor tödliche Folgen haben. So bekommt das Realismusproblem mit der wachsenden Macht der (aufklärerischen) Städte zu Beginn des 13. Jahrhunderts eine neue politische Brisanz, die erst mit der Renaissance ihre volle Reichweite erkennen lässt. Die über die arabischen Philosophen Avicenna im 10. und Averroes im 12. Jahrhundert geförderte Aristoteles-Rezeption verknüpft sich mit einer radikalen Veränderung des geistigen Klimas Europas (nicht zuletzt durch die Gründung von Universitäten: Oxford um 1200, Paris um 1205, Bologna 1210 usw.). Im Zuge der vom theologischen Zwangszusammenhang gelösten und immer selbstständiger auftretenden Philosophie entwickeln sich erste intellektuelle Diskurse. Wenn jemand nun mit der Formel: „Universalia in rebus“ die Allgemeinbegriffe in die Einzeldinge transponierte, dann hatte diese an Aristoteles orientierte Position eine klare politische Dimension gegen die Allgemeinverbindlichkeit kirchlicher Dogmen. Das „Wesen“ des Allgemeinen schrumpft schließlich im Zuge der Aufklärung bei deren deutschem Hauptvertreter Kant auf ein notwendiges, aber der Bestimmtheit der Erkenntnis entzogenes großes X. Alle wesentlichen Bestimmungen des objektiven Wissens versammeln sich bei Kant in der Erscheinungswelt.

 

Von der Kritik der Wirklichkeit bei Kant zur Affirmation bei Hegel

Den von Kant vertieften Graben zwischen Wesen und Erscheinungen will Hegel zwar überbrücken, indem für ihn das Wesen notwendigerweise erscheinen muss, diese zwei Seiten der Beziehung also auf Gedeih und Verderb miteinander verkoppelt sind. Man könnte davon sprechen, dass Hegel den Versuch macht, das Universalienproblem durch Vermittlung von ontologischen und nominalistischen Positionen zu lösen. Das führt in dieser Form des dialektischen Denkens aber dazu, das Denken mit Utopieverboten zu belasten. Begriff und Sache sind derart fest miteinander verkoppelt, dass der überschreitende Gedanke, der Traum von einer besseren Welt, sofort in den Verdacht realitätsloser Konstruktion gebracht wird.
 
Das Affirmative der Philosophie Hegels, ja ihr Rechtfertigungscharakter in Beziehung auf das Bestehende, wie es die Vormärz-Intellektuellen interpretierten, entspringt dem Verdacht, dass Hegel mit der bekannten Formel: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ 7 Philosophie ganz von der normativen Kraft trennt und auf das bloße Begreifen des Gegebenen verpflichtet. Es klingt hier tatsächlich so, als wären Vernunft und Wirklichkeit in eins zu setzen; dass es also zwar „faule Existenzen“ geben kann, Gebilde der Realitätstäuschung, sie jedoch nicht den Gesamtzusammenhang vernünftiger Wirklichkeit berühren. Es ist schon eine merkwürdige Wendung im Hegelschen Denken, wenn der absolute Idealist einer Geistphilosophie, die ja das ganze System, die Methode und den Erkenntniszuschnitt bestimmt, harte Grenzen des Erkennens zieht: „Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, dass erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfasst, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ 8
 
Wenn es so sein sollte, dass dieser kluge Ratgebervogel in ständiger Begleitung der Athene ausschließlich Nachtflüge veranstaltet, dann verliert Erkenntnis ihre orientierende Kraft und verkümmert zum methodisch aufgeputzten Ritual der Verdopplung des Gegebenen. Brechen in diesem System der fertigen Welt, wie Hegel sagt, die überschüssigen Energien in Gestalt von Widerstand oder Revolution hervor, dann können sie ihren Wahrheitsbeweis nur bekunden, wenn sie selbst jetzt gegenständlich geworden sind, den versteinerten Endzustand als Sieger erreichen. Im objektiven Geschichtsprozess mögen sie beteiligt sein, doch dürfen sie, die vereinzelt handelnden Subjekte, sich unter keinen Umständen in ihrem subjektiven Wollen kenntlich machen. Damit ist das Ende des utopischen Denkens besiegelt.
 
Gegen diesen verschwiegenen Positivismus im Denken hat, als die idealistischen Systeme ebenso zerbrachen wie die Solidargemeinschaften der Linken, Ernst Bloch als Erster entschiedenen Protest angemeldet. Zu begreifen, was ist, sei die Aufgabe der Philosophie. Aber wie setzt sich dieses Sein, dieses Ist, zusammen? „Mit dem ‚Geist der Utopie‘“, so Ivo Frenzel, „hat Ernst Bloch das utopische Pathos des Sozialismus sicher am eindringlichsten und kräftigsten wiederbelebt. Seine Philosophie glaubt im Gegensatz zu der von Hegel, dass die Eule der Minerva nicht bei einbrechender Dämmerung, sondern in der ersten Morgenröte beginnt, die einen Tag verheißt, der noch weit unter dem Horizont liegt“. Denn die Barbarei des Krieges und die Entmenschung der Menschen zu begreifen, ist keinem Menschen möglich, der nicht die Vorstellung von einer besseren Welt und von Aufgaben der Humanisierung der Gesellschaft entwickelt hat. Unter solchen Umständen baut sich jeder Mensch eine Welt, wie sie sein soll, und verzichtet gerne darauf zu wissen, wie sie ist; denn für die erfahrbaren barbarischen Verhältnisse benötigt man keine Wissenschaft, um davon Kenntnis zu bekommen.

 

Von der Utopie zur Wissenschaft: Der große Irrtum

Einen völlig anderen Weg gingen der späte Marx und vor allem Friedrich Engels: Die Engelssche „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ dokumentiert einen der Grundirrtümer der modernen sozialen Bewegung. Sozialismus ist, wie man es auch drehen und wenden und dem Zeitgeist des verwissenschaftlichten Zeitalters anpassen mag, kein Wissenschaftsprojekt. Wo Menschen in Kampfsituationen ihr Leben riskieren, indem sie sich im Denken und mit ihrer ganzen Existenz den bestehenden Herrschaftsverhältnissen entgegenstellen, beziehen sie ihre Motive und ihre Kräfte nicht primär aus Einsichtsquellen, die darauf verweisen, dass ein Herrschaftssystem ungerecht ist oder dass es aus Widersprüchen besteht. Sie träumen vielmehr von einem besseren Leben, von guter Arbeit und einem Stück Lebensglück. Sie träumen von guten Beziehungen zu anderen Menschen und vielleicht auch von Elementen der Selbstbestimmung und der Partizipation am gesellschaftlichen Leben. Das alles aber sind Inhalte von Utopien, die über den gegenwärtigen Zustand hinausweisen und selbst dann ein Moment des Sinnentwurfs enthalten, wenn sie Reflexionen über das beschädigte Leben sind, wie Adorno seine „Minima Moralia“ im Untertitel bezeichnet – traurige Wissenschaft in deutlicher Abgrenzung zur „fröhlichen“ Nietzsches.
 
Auch in den sozialistischen Varianten der sozialen Bewegung, die immer stärker durch Marx und Engels beeinflusst sind, rangiert die Utopie als eine bloß subjektive Meinung Einzelner, die in ihrer Phantasie Projekte planen und diese umsetzen, während der gesamtrevolutionäre Prozess eben nur wissenschaftlich zu begreifen ist. Den politischen Projektkünstlern verweigern sie nicht Achtung und Anerkennung; aber die drei, die sie im Auge haben, Robert Owen, Henri de Saint-Simon und Charles Fourier, beschreiten, nimmt man ihre Unternehmen in strategischer Linie, einen Irrweg. Deshalb kann man, wie Martin Buber das treffsicher einmal bezeichnet, davon sprechen, dass die anarchistischen Utopien, die auf Beseitigung von Herrschaft gehen, vorrevolutionär sind, das heißt: die Veränderung des Menschen ist konstitutives Element der revolutionären Umwälzung; während die sozialistischen Utopien, nicht selten in verschwiegener und wiederum wissenschaftlich verkleideter Form, die Machtumwälzung zur Voraussetzung menschlicher Veränderungen machen; es sind somit wesentlich nachrevolutionäre Lebensentwürfe.
 
So ist im dialektischen Denken, darin unterscheiden sich Marx und Hegel überhaupt nicht, das revolutionär-sprengende Element ganz in den Widerspruchszusammenhang von Begriff und Sache gesteckt. Doch auf jeder Stufe dieses Widerspruchsverhältnisses bleibt ein Rest des unerfüllten Wahrheitsgehalts, der durch die Arbeit der Zuspitzung über sich hinaus treibt und den „objektiven Geist“ mit immer konkreteren, umfassenderen Erfahrungsgehalten füllt. In diesem Prozess macht sich die Subjektivität noch nicht einmal durch Störungen des Ablaufs bemerkbar; sie ist schlicht integriert und an der Wirklichkeitsbildung unauffällig beteiligt – ohne dass dies in einer Wertschätzung des menschlichen Wollens zum Ausdruck käme. Im Gegenteil: Engels betont, dass die revolutionären Potenzen im objektiven Prozess selbst heranreifen: „Wer Augen hat zu sehen, der sieht hier die Forderung einer sozialen Revolution klar genug gestellt.“ In diesem kollektiven Akt der Umwälzung des ganzen Systems und der Abschaffung des Kapitals sind sämtliche Energiequellen versammelt, denen gegenüber die subjektiven Gesinnungen und Wünsche mehr oder weniger gleichgültig sind. Soziale Revolution ist etwas, was die Menschen zwingt, in eine bestimmte Richtung zu marschieren und den Raum der Veränderung zu besetzen, ob sie wollen oder nicht.
 
Damit betreibt Engels dezidiert die Ausgrenzung der schrittweisen Veränderung der Verhältnisse. „Arbeiterassoziationen mit Staatskapital wie bei weiland Lassalle“ seien im Kapital von Marx folglich nicht zu finden: „Marx ist und bleibt derselbe Revolutionär, der er immer gewesen, und in einer wissenschaftlichen Schrift war er wohl der Letzte, der seine Ansichten in dieser Beziehung verhüllt hätte.“

 

Verwaltung über Sachen statt Herrschaft von Menschen über Menschen

Auf diese Weise treibt der wissenschaftliche Sozialismus der Bewegung ihren utopischen Charakter aus. Dagegen spielt bei Engels der Gedanke der Saint-Simonisten-Schrift, die Herrschaft von Menschen über Menschen zu überwinden, indem man zur Verwaltung von Sachen übergeht, eine zentrale Rolle. Mit verheerender Konsequenz: Es gehört zu den wirksamsten Fehlern der Engelsschen Position, dass im gesellschaftlichen Gefüge wechselseitige Machtkontrollen fehlen. Dadurch wird auch der Bildung der zur Herrschaft gelangenden politischen Klasse des Proletariats kein bestimmender Rang zugeordnet. Es entsteht auf diese Weise, auch in wissenschaftstheoretischer Blickrichtung, eine Art sekundärer Positivismus.
 
Woran die Utopisten jeglicher Prägung, die frühen vom Schlage Campanellas und des Thomas Morus und die späteren sozialistischer Ausrichtung,intensiv gearbeitet haben, ist dagegen stets bezogen auf die Veränderung der Menschen – und das schon unter Verhältnissen, die noch durch alte Herrschaftsbeziehungen bestimmt sind. Die subjektive Befreiung muss bereits wesentliche Schritte vor der Revolutionierung der Verhältnisse machen. Bei Marx und Engels ist das genau umgekehrt: Nichts verändert sich in der Welt, ohne dass die Produktionsverhältnisse unter die Kontrolle der revolutionären Klasse des Proletariats gebracht sind. Die Veränderung der Subjekte ist eine Aufgabe nach der Revolution, nach dem Sprung aus der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit.
 
Wie ich bereits gezeigt habe, ist dagegen für den frühen – im Gegensatz zum alten – Marx der Gedanke eines utopischen Traums innerhalb der Wirklichkeit durchaus realistisch und im Blick auf Bewusstsein und Verwirklichung fassbar. Die Menschen besitzen längst den Traum, dessen sie sich nur bewusst sein müssen, um die in diesem Traum enthaltene Wirklichkeit zu erfahren. Aber: Ohne die Grundlage der materiellen Produktions- und Lebensverhältnisse, die geändert werden müssen, kommt diesen Träumen in der Wirklichkeit nur der Status eines Möglichen zu.
 
Es ist die berühmte, immer wieder zitierte Stelle aus der Deutschen Ideologie, die einen zentralen utopischen Gedanken enthält, der für Marx eine wichtige Rolle in der Aufhebung der Entfremdung der Menschen spielt: nämlich die Aufhebung von Arbeitsteilung. Arbeitsteilung, zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, aber auch in der beruflichen Vereinseitigung der menschlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten, ist das Grundmuster von Herrschaft bis hin zu jenem Punkt, an dem Arbeitsteilungen sich zu Klassenstrukturen verselbstständigen.
 
Es ist für Marx illusionär, diese verselbstständigten Arbeitsteilungen unter bestehenden Herrschaftsbedingungen rückgängig zu machen. Zwar betont er ausdrücklich, dass Kommunismus kein Zustand, sondern eine Bewegung ist, welche den jetzigen Zustand aufhebt; aber das wirkliche Reich der Freiheit ist ein Jenseits dieses Reichs der Notwendigkeit, mit der Schwerkraft der Produktions- und Lebensverhältnisse und den entsprechenden Klassengegensätzen: „Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ 9

 

Vom Verlust des Utopischen zu dessen Rückeroberung

Dieser utopische Kern des frühen Marx geht in den späteren Werken zunehmend verloren. In den Randglossen zur Kritik des Gothaer Programms macht sich Marx über allerlei Lassalleanischen Vorrat an utopischen Projekten wie die staatlich geförderten Kooperativgenossenschaften lustig; aber die Leerstelle des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus oder gar Kommunismus wird durch ihn kaum konkreter ausgefüllt.
 
Und dennoch: Geht man von jenen Utopien aus, die in die Wirklichkeit umzusetzen Aufgabe eines zur Herrschaft gekommenen Proletariats ist, dann findet man bei Marx und Engels einen reichhaltigen Vorrat an Ideen und Vorstellungen, die Charaktermerkmale der sozialen und politischen Arbeitsprozesse nach der revolutionären Machtergreifung sein sollen. Es geht dabei insgesamt nicht mehr nur um die Befreiung einer Klasse, sondern um die Befreiung der Menschheit aus den Gefängnismauern der Klassenherrschaft. Dafür ist die Arbeit an den Subjekten, an der Innenausstattung der Menschen, ebenso wichtig wie die Veränderung des institutionellen Systems, in dem die objektiven Bedingungen einer subjektiven Emanzipation angelegt sind.
 
Gerade heute, angesichts dramatischer Verteilungskämpfe zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitsplatzlosen nicht nur in Europa, gilt es am utopischen Kern der Marxschen Überlegungen festzuhalten: Die Aufhebung von Arbeitsteilung ist ein wesentliches Element der Emanzipation der Menschen, die mit der Selbstzerrissenheit der Gesellschaft gleichzeitig die entfremdende Spaltung in den Subjekten aufhebt. Das Bild vom Jagen und Fischen und Kritisieren, in dem die Vereinseitigung der Tätigkeiten beseitigt sein soll, habe ich bereits genannt. Aber es geht noch weiter: Zwar sind immer noch und für lange Zeit Entfremdungserbschaften aus der Vergangenheit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die weit in die Gegenwart hineinragt, aufzuarbeiten; aber mit jeder neuen Stufe der kommunistischen Gesellschaft wachsen bei Marx auch die individuellen Freiheitspotentiale, sogar bis zu dem Punkt, an dem die Gesellschaft die bürgerliche Rechtsform, die am Prinzip der Gleichheit orientiert ist, aufgeben und eine die spezifische Individualität des Einzelnen in Betracht ziehende Rechtskultur entwickeln kann.
 
Es ist freilich bemerkenswert, dass alle diese von Marx und Engels bezeichneten Utopien im Reich der Freiheit nicht als Motivationskräfte der revolutionären Veränderung in die Bildung und Erziehung der Subjekte eingehen, sondern erst mit der Veränderung der objektiven Machtverhältnisse wirksam werden. Erst dann, jenseits des Reichs der Notwendigkeit „beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.“ 10
 
Hierin aber steckt bis heute ein enormer Stachel: nämlich der Widerspruch zwischen der in der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft mit ihrer verinnerlichten Arbeitsmoral angelegten gewaltigen Reichtumsproduktion auf der einen Seite und den immer verengteren Formen, in denen dieser Reichtum verteilt und dem gesellschaftlichen Ganzen zunutze gemacht werden kann, auf der anderen. Dieser Grundwiderspruch jeder kapitalistischen Gesellschaft wird im „Rohentwurf“ zum Kapital in einer äußersten Polarisierung zugespitzt. Marx denkt hier wie in einem geistigen Experiment; die Produktionsstruktur dieser Arbeitsgesellschaft ist es, die ihr Ende einleitet, aber nur die Potentiale einer neuen Gesellschaft zubereitet. 11 Hier zeigt sich der eigentliche utopische Kern der Marxschen Gesellschaftstheorie: „Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neu entwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffene. Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muss aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts.“ 12
 
Ich kenne keinen Text, weder von Marx noch den Marxisten verschiedener Richtungen oder den späteren Ökonomen, die sich auf Marx beziehen, der in ähnlich prägnanter Zuspitzung die innere Dynamik dieses kapitalistischen Systems bis zum Punkt des Aufsprengens (was immer das für Folgen haben möchte) formuliert hätte. Hier treffen die Logik der kapitalistischen Produktion und die darin enthaltenen Sprengkräfte, die auch von utopischem Gehalt sind, zentral und in großer Gewalt aufeinander. Marx treibt hier die Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung bis zu dem Punkt hin, wo so etwas wie die Utopie einer von materieller Not befreiten Gesellschaft erkennbar wird.
 
Auf Europa als „konkrete Utopie“ bezogen bedeutet dies: Die Weiterentwicklung des Sozialstaats ist und bleibt ein wesentliches Element im Prozess der europäischen Einigung. Diese wird nur dann erfolgreich sein, wenn sie von unten gestützt wird, wenn sie ein soziales Fundament hat. 13 Was das allerdings für die revolutionäre Funktion des Proletariats – oder für das, was davon als Prekariat oder Unterschicht heute noch geblieben ist – bedeuten könnte, das ja bei Marx als der entscheidende Faktor der Umwälzung in Betracht kommt, ist damit bloß angedeutet, aber nicht in seinen ganzen Folgen bedacht. Auch darüber, über die Rolle des politischen Subjekts, wieder intensiv nachzudenken, ist angesichts der immer größer werdenden sozialen Zerklüftungen der kapitalistischen Gesellschaft in Europa, aber auch darüber hinaus, das Gebot der Stunde für jede Gesellschaftskritik.

 


VOETNOTEN
1. Zit. nach Arnhelm Neusüss (Hg.), Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Frankfurt a. M. und New York 1986, S. 94 f.
2. Vgl. Jürgen Habermas, Das utopische Gefälle, in: „Blätter“, 8/2010, S. 43-53.
3. Martin Buber, Voluntaristische und nezessitaristische Utopie, in: Neusüss (Hg.), a.a.O., S. 390.
4. Karl Marx, Die Frühschriften, hg. von Siegfried Landshut, neu eingerichtet von Oliver Hens und Richard Sperl, Geleitwort von Oskar Negt, Stuttgart 2004, S. 285.
5. Ebd., S. 278.
6. Ebd., S. 236.
7. Friedrich Hegel, Sämtliche Werke, Bd. 7 (Grundlinien der Philosophie des Rechts), Frankfurt a. M. 1986, S. 33.
8. Ebd., S. 36 f.
9. Karl Marx, Die Frühschriften, a.a.O., S. 428 f.
10. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, MEW 25, Berlin 1964, S. 828.
11. Allerdings hat Marx diese radikale Position einer Selbstaufhebung der Arbeitsgesellschaft an keiner Stelle des „Kapital“ aufgenommen.
12. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf 1857-1858), Berlin 1953, S. 592 ff.
13. Vgl. dazu weiterführend auch: Oskar Negt, Gesellschaftsentwurf Europa. Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen, Göttingen 2012.


THEMA’S:
Europa, Geschichte, Kapitalismus


BRON
»Blätter« 8/2012, pag. 75-84



 

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